: „Kaum jemand weiß, wer wir sind“
Kamal Sharef Bacalan
Alle Welt spricht von Irakern, Schiiten und Kurden – aber wer weiß schon etwas über Turkmenen? Kamal Sharef Bacalan, Jahrgang 1960, ist sozusagen beruflich Turkmene. Als Berliner Repräsentant der turkstämmigen Minderheit im Irak versucht er, auf die Probleme seines Volkes aufmerksam zu machen. Doch obwohl der Lebensmitteltechnologe Türkisch, Arabisch, Serbokroatisch, ein bisschen Englisch, Russisch und Polnisch spricht, hört ihm kaum jemand zu. Vielleicht liegt es daran, dass er noch kein Deutsch spricht – schließlich dachte der gebürtige Kirkuker nie daran, hier als inoffizieller Botschafter der „Irakischen Turkmenischen Front“ zu landen
Interview CEM SEY und ADRIENNE WOLTERSDORF
taz: Herr Bacalan, der Name der Organisation, die Sie hier repräsentieren, die Turkmenische Front, hört sich ja etwas militant an.
Kamal Sharef Bacalan: Ich weiß, die Deutschen mögen keinen Krieg und auch nicht das Wort „Front“. Das habe ich in unserer Zentrale mehrfach angesprochen. Mit dem türkischen Wort „Front“ meinen wir aber eine Union verschiedener Organisationen. Nationalistische Ziele vertreten wir nicht, höchstens die Bewahrung der Einheit des Iraks.
Wie kommt es, dass das Volk der Turkmenen nicht in Turkmenistan lebt?
Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal mit der damaligen Ausländerbauftragten Barbara John sprach, fragte sie mich auch, warum wir dort seien – wir hätten doch ein eigenes Land, Turkmenistan am Kaspischen Meer. Wir sind aber Iraker und haben uns vor rund 1.000 Jahren im Irak niedergelassen.Warum sollen wir unser Land verlassen?
Sie sprechen von rund drei Millionen Turkmenen im Irak. Bitte eine kleine Geschichtslektion: Wie kamen sie da eigentlich hin?
Wir stammen von den Oguz-Stämmen in Zentralasien. Von dort aus haben wir uns bis nach Mittelanatolien verteilt. Turkmenische Stämme gibt es heute in der Türkei, aber auch im Iran und in Syrien. Die Turkmenen gründeten im Lauf der Geschichte sechs Reiche. Die sind Ihnen zum Beispiel bekannt als Seldschuken und Osmanen. Deshalb haben wir auf unserer Fahne auch sechs Sterne.
Das Problem ist, dass die irakischen Turkmenen im gleichen nordirakischen Siedlungsgebiet leben wie die Kurden. Beide beanspruchen sie zum Beispiel Städte wie Kirkuk, Mossul, Diyala und Arbil.
Wir sind eine der drei Säulen, die Irak bilden: Araber, Kurden, Turkmenen. Danach kommen die Assyrer. Wir leben auf einem Landstrich, der sich vom Nordwesten in den Südosten zieht, bis hinunter südlich von Bagdad. Im Moment leben in Bagdad über 300.000 Turkmenen. Das Kulturzentrum und Herz der irakischen Turkmenen ist aber Kirkuk. Historisch gesehen ist auch Arbil eine turkmenische Stadt. Aber dort wurden wir von Kurden assimiliert. Jetzt wollen sie in Kirkuk das Gleiche tun.
Können Sie von einer systematischen Unterdrückung der irakischen Turkmenen sprechen?
Natürlich. Schon in den 20er-Jahren, nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, begannen diese Repressionen. Am schlimmsten aber war es unter Saddam. 1976 erließ er ein Gesetz, mit dem unsere Identität quasi ausgelöscht werden sollte. Bei den Meldebehörden gab es nur noch die Rubriken Araber oder Kurde. Natürlich wurden unter Saddam auch Araber, Kurden, Christen und andere unterdrückt, aber die meisten Repressionen erfuhren wir.
Wie kommt es, dass die Welt kaum etwas davon weiß?
Wir sind ein friedliebendes, loyales Volk und haben daher nie versucht, dem irakischen Staat Schwierigkeiten zu machen. Wir haben auch nicht an fremde Türen geklopft, als es wir vertrieben und zwangsumgesiedelt wurden. In Kirkuk wurden unsere historischen Straßen- und Stadtteilnamen geändert, Dörfer wurden niedergebrannt, Araber aus dem Süden des Irak auf unserem Grund und Boden angesiedelt. Jetzt gehen die Araber wieder, aber nun ziehen Kurden in unsere Häuser ein.
Sowohl die Kurden als auch die Turkmenen haben unter dem Saddam-Regime gelitten. Dennoch gibt es keine Solidarität unter ihnen?
1996 brannten kurdische Einheiten gemeinsam mit irakischen unsere Büros nieder. Wir hatten immer Probleme im Norden. Das geht jetzt weiter so. Mittlerweile gibt es gemeinsame Demonstrationen von Arabern und Turkmenen gegen die gefährlichen Pläne der Kurden, den Irak in eine Föderation zu gliedern. Wir wollen nicht, dass im Irak Regionen entstehen. Alle Ressourcen des Landes sollen für alle zugänglich bleiben.
Wie haben es die Kurden geschafft, schon zu Saddams Zeiten international Aufmerksamkeit zu erregen?
Sie zettelten gelegentlich bewaffnete Aufstände an. Das konnten sie auch, da es die geografische Lage ihrer Region erlaubt. Kamen sie in Bedrängnis, flüchteten sie in die Nachbarländer. Im Ausland wurden die Kurden dann meistens mit Sympathie empfangen. Uns hat die Welt erst in den 90er-Jahren entdeckt, selbst die Türkei. Nicht besser erging es den irakischen Schiiten.
Viele Deutsche haben eine Sympathie für Kurden als unterdrücktes Volk. Wie reagieren die Menschen hier auf Sie?
Es gibt sehr wenige Reaktionen, da kaum jemand weiß, wer wir sind. Selbst die hiesigen Behörden wussten nichts von der Existenz dreier Millionen irakischer Turkmenen. Wie denn auch? Volkszählungen fanden unter Saddam nicht mehr statt, und wir wurden auf dem Papier unter der ethnischen Zugehörigkeit Araber oder Kurden abgeschafft. Aber wir werden jetzt lauter.
Offenbar noch nicht laut genug …
Wenn wir diesen Kampf, von dem mittlerweile alle überzeugt sind, nicht führen, wird die Geschichte unseres Volk ausgelöscht. Alle wissen: Wenn wir nur rumsitzen, gewinnen wir nichts. Wir haben schon zu lange rumgesessen, deshalb weiß die Welt auch nichts von uns.
Gibt es eine kollektive Wut?
Ja. Erst jetzt werden wir etwas ruhiger, weil Saddam weg ist. Damals konnten wir nicht einmal atmen. Auch heute fühlen wir uns noch nicht sicher.
Wie vertritt man denn politisch ein Volk, dass kaum jemand kennt, dass keine gewichtigen Fürsprecher hat?
1995 gründeten wir die Turkmenische Front, unter deren Dach alle turkmenischen Parteien zusammengeschlossen sind. Wir haben fünf Repräsentanzen, drei in Europa, je eine in den USA und der Türkei. Und überall haben wir das gleiche Problem: Die Politiker, mit denen wir sprechen, betonen stets, dass sie für die Einheit Iraks sind. Mehr passiert aber nicht. Mit den Medien ist es nicht besser. Wir interessieren einfach niemanden.
Die Türkei müsste doch Ihr natürlicher Verbündeter sein?
Das ist ein weit verbreitetes Vorurteil. Alle denken, das sind Türken, also kümmert sich die Türkei um sie. Das ist aber falsch. Wir sind nämlich Iraker, und die Türkei ist ein Nachbarland. Die Türkei unterstützt zudem andere Gruppen viel intensiver als uns. Wenn wir zu den Berliner türkischen Organsiationen gehen, stellen wir uns jedenfalls als Iraker vor. Sie helfen uns ein bisschen in sozialen Dingen. Wirklich helfen können uns aber nur internationale Stiftungen und die UNO.
In Deutschland leben rund 10.000 Turkmenen. Wie viele davon in Berlin?
60 Familien. Die meisten kamen erst im letzten Jahrzehnt. Denn erst nach dem irakisch-iranischen Krieg gab es eine regelrechte Flüchtlingswelle.
Ist das Büro der Turkmenischen Front hier am Nollendorfplatz sozusagen die inoffizielle Turkmenische Botschaft in Deutschland?
Wir sind natürlich keine Botschaft, aber viele Turkmenen, auch die, die außerhalb der Bundesrepublik leben, rufen uns an, wenn sie Probleme haben mit Transitvisa durch die Türkei oder anderen Staaten. Wir können dann meistens helfen. Viele brauchen auch Dokumente, die wir ausstellen, und wir helfen bei Angelegenheiten mit irakischen Gerichten, mit Anwälten, natürlich auch bei Problemen mit der Ausländerbehörde.
Welche Probleme gibt es da?
Viele Turkmenen arbeiten hier, aber meistens ist ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt. Es gibt auch Turkmenen, die bereits in den 60er-Jahren kamen und völlig integriert sind.
Wenn wir Ihren Schreibtisch angucken, haben wir den Eindruck, dass Sie lieber in Brüssel arbeiten möchten?
Ja, das haben wir auch schon erörtert, wahrscheinlich werden wir eine Vertretung in Brüssel eröffenen …
… weil Sie neben ihrer Front-Flagge statt der deutschen die belgische Flagge aufgestellt haben …
… hm, das ist doch die deutsche?
Nein, das ist die belgische. Gleiche Farben, aber quer statt längs gestreift.
… (lacht) hm, das heißt natürlich nicht, dass Deutschland im Moment für uns nicht viel bedeutender wäre!
Wie wurden Sie Politiker?
Ich war schon als Schüler in Kirkuk Mitglied einer illegalen Schüler-und-Studenten-Organisation. Wenn man da erwischt wurde, war der Kopf gleich ab. Aber damals war ich jung und mutig. Ich kam zum Studium nach Deutschland, bekam aber keinen Studienplatz. Also zog ich weiter nach Jugoslawien, damals das einzige Land, das Irakern visafreie Einreise gewährte. Als ich dann in Belgrad und Nis Lebensmitteltechnologie studierte, gründete ich 1985 einen turkmenischen Studentenverband. Erst dort wurde ich richtig politisiert. Als ich dann 1990 in den Irak zurückkehrte, herrschte dort das völlige Chaos. Zahllose Menschen wurden verhaftet, gefoltert, hingerichtet, also floh ich in die Türkei. Von dort schickten mich meine politischen Mitstreiter dann nach Deutschland, weil sie dachten, es ist gut, Leute dort zu haben.
Als Sie nach Berlin kamen, gab es bereits den Turkmenischen Kulturverein in der Kreuzberger Schönleinstraße. War das eine Basis für Ihre Arbeit?
Ja, 1996 wurde ich der Vorsitzende dieses Vereins, den es mittlerweile nur noch in virtueller Form gibt. Unser Vereinslokal mussten wir 2001 aus finanziellen Gründen aufgeben. Damals trafen sich dort rund 30 Landsleute, die schon viel früher den Irak verlassen hatten. Als hier ein Front-Vertreter gesucht wurde, haben mich meine Freunde vorgeschlagen. So bin ich Politiker geworden.
Sie haben neun Geschwister, die Hälfte lebt auf der ganzen Welt verteilt. Ist diese Zerrissenheit ein typisches Schicksal turkmenischer Familien?
Ja, leider. Niemand lebt gern in der Fremde. Im Irak hat jede Familie ein Mitglied im Ausland. Wären diese Menschen nicht emigriert, wären viele von ihnen doch längst tot.
Reden Sie hier in Berlin mit den Arabern und den Kurden?
Der irakische Kulturverein al-Rafidein in Neukölln hat uns einige Male eingeladen. Wir haben keine Probleme mit ihnen, denn politisch sind wir uns einig. Eigentlich verstehen wir uns auch mit den Kurden, wir wollen ja friedlich zusammenleben und nicht, dass im Nordirak ein zweites Palästina entsteht. Die Berliner Kurden schicken uns ab und an ein Fax. Mehr passiert da nicht, das macht uns etwas traurig, weil es uns allen doch um den Irak gehen sollte.