: Nomaden ohne Klassenfotos
Sie besuchen internationale Schulen und lernen ständig neue Sprachen. Das Stück „Airport Kids“ von Lola Arias und Stefan Kaegi bringt eine Utopie ins HAU 2
Sie wissen auf die Frage: „Woher kommst du?“ keine einfache Antwort, denn sie ziehen ständig um, den globalisierten Arbeitsplatzanforderungen ihrer Eltern hinterher. Sie besuchen internationale Schulen und hängen ihr Herz besser nur an Dinge, die in einen Umzugscontainer passen. Ihre Beziehungsprobleme lösen sie mehrsprachig und interkulturell kompetent, obwohl sie manchmal auch besserwisserisch und arrogant sein können. So beschreiben die Soziologen die sogenannten Third Culture Kids, und dieses Bild schwebt über ihnen wie eine Blase. Auch in dem Theaterstück „Airport Kids“, für das acht von ihnen auf der Bühne stehen. Dort reißt der zwölfjährige Patrick (Irland) die Seiten eines Buchs, das diese soziologisch fundierten Merkmale versammelt, heraus und zerknüllt sie zu einem Papierball. Den platziert die zehnjährige Kristina (Russland) als angehender Tennisprofi mit scharfer Vorhand ins Publikum. Denn jeder von ihnen will als Individuum gesehen werden.
Direkt nach der Ende Mai recht lieblos ins Berliner HAU transportierten brasilianischen Polizeishow „Chácara Paraíso“ haben Lola Arias und Stefan Kaegi gemeinsam mit acht gerade in der Schweiz lebenden „Airport-Kids“ im Theatre Vidy Lausanne einen ganz wunderbaren kindlichen Miniaturkosmos globalen Nomadentums geschaffen, der nun seinerseits die Theater-Welt bereist. In Berlin angekommen ist ein Stapel Containerkisten und ein Transportband auf einer sonst leeren Bühne. Auf den ersten Blick verbergen die fast identisch wirkenden Kisten ihr kostbares Innenleben: ein kleines mobiles Eigenheim, individuell gestaltet mit Klassenfotos, abgenutzte Tennisschuhe mit arabischem Grafitto oder ein fast raumsprengendes Schlagzeug. Diese wenigen gegenständlichen Erinnerungen bleiben meist unsichtbar und überlassen den (Bühnen-)Raum den Projektionen, die so unterschiedlich sind wie die kleinen Containerbewohner.
Zwischen sieben und vierzehn Jahre alt sind die Kinder und doch schon Globalisierungsexperten. Arias und Kaegi haben sie nach ihrer Vergangenheit und unserer Zukunft befragt. Dabei entfalten die Erzählungen, das Spiel und die Musik der Kids, die zusammen eine Popband gründen, ein großes utopisches Potenzial. Indem die Kategorien von Alltagserfahrung brüchig werden und ebenso schwer zu verorten sind wie die Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft, macht die Bühnenwirklichkeit deutlich, dass Biografie nicht viel mehr als ein Selbstentwurf ist. Und der Realitätsgehalt des hoch spezialisierten Job des Vaters, der die Qualität von Spielzeug für Kellogg-Cornflakes-Packungen an Kriterien wie Wurf- und Bissfestigkeit bemisst, ist bei näherer Betrachtung auch gar nicht so weit von der Frage entfernt, ob chinesische Kolonien zukünftig den Mars bevölkern könnten.
Zwar verschweigt die Inszenierung nicht, dass ein Umzug von Russland in die Schweiz ein Kind „zwei Großmütter, ein Paar Sneakers und einen ganz bestimmten Blick aus dem Fenster“ kostet. Aber dass es auf dem globalisierten Identitätsfeld auch viel zu gewinnen gibt, steht hier außer Frage. Denn was die unglaublich präzise, selbstbewusste und dabei komplett unaufgeregte Darstellung der Kids nicht mehr widerspiegelt, sind die sozialen Unterschiede einer Herkunft, wie sie zwischen dem Sohn der Vizepräsidentin von Philip Morris und der Tochter eines Kriegsflüchtlings aus Angola eigentlich zu erwarten wären. Und wie nebenbei findet die Inszenierung für all das ebenso anrührende wie grundkomische Bilder, die in jedem Moment über jeden Kitschverdacht komplett erhaben sind. ANJA QUICKERT
Bis 25. Oktober im HAU 2, 20 Uhr