: Hamid Karsai reicht nicht
Die neue Verfassung für Afghanistan ist liberaler ausgefallen als befürchtet. Doch der Weg zu einer funktionierenden Demokratie und einem dauerhaften Frieden ist noch weit
Bis zuletzt drohte sie zu scheitern – nun hat Afghanistans Große Ratsversammlung, die Loja Dschirga, am Sonntag doch noch eine neue Verfassung verabschiedet. Sie bekennt sich zu den Prinzipien der „heiligen Religion des Islam“ und sieht ein Präsidialsystem mit einer starken Stellung des Staatsoberhauptes, vergleichbar mit den USA, vor. Damit konnte sich Interimspräsident Hamid Karsai durchsetzen. Vorgesehen sind weiterhin ein Parlament aus zwei Kammern und ein Verfassungsrat. Das neue Grundgesetz bekennt sich zu den Menschenrechten und zur Gleichstellung von Mann und Frau, während das Wort „Scharia“ nicht explizit enthalten ist.
Die neue Verfassung ist liberaler ausgefallen, als es die Mehrheit der Mudschaheddin in der Loja Dschirga zunächst befürchten ließ. Das Grundgesetz ist zwar kein Fahrplan für eine Musterdemokratie, kann das Land aber trotzdem voranbringen. Darüber wird aber vor allem die Umsetzung entscheiden.
Doch der Verfassungsprozess einschließlich der Loja Dschirga bot bereits Grund zur Sorge. So wurde der von einer 35-köpfigen Kommission erarbeitete Verfassungsentwurf zunächst nicht veröffentlicht, sondern wochenlang hinter den Kulissen verhandelt und dann noch einmal von Regierungsvertretern eigenmächtig massiv verändert – während die Bevölkerung längst den Entwurf diskutieren sollte.
Die Manipulationen im Vorfeld und bei der Loja Dschirga boten einen üblen Vorgeschmack auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die ab Juni dieses Jahres vorgesehen sind. Denn ohne Entmachtung der Warlords wird es keinen demokratischen Prozess geben. Bisher hat die Strategie von internationaler Gemeinschaft und afghanischer Regierung, mit den Warlords zusammenzuarbeiten, diese nicht geschwächt, sondern deren Macht sogar gefestigt.
Dies zeigt ein Vergleich der beiden Loja Dschirgas 2002 und 2003. Die Macht der Warlords nahm im Laufe der vergangenen zwei Jahre nicht ab, sondern zu. Sie diskreditierten nicht nur den demokratischen Prozess, sondern verschafften sich selbst eine demokratische Legitimation. Bei der Verfassungs-Loja-Dschirga konnten sie jetzt sogar einen Abstimmungsboykott organisieren, dem fast die Hälfte der Delegierten folgte. Verschärft durch den Versuch der Regierung, sich mit Hilfe einer paschtunischen Mehrheit durchzusetzen, kam es zu einer gefährlichen Ethnisierung der Konflikte. Dies riss alte Wunden zwischen den Ethnien auf – ein Rückschlag, der nicht so schnell verheilen dürfte.
Zwar konnte sich Karsai nicht zuletzt auch dank des Drucks der UN-Mission und der US-Botschaft durchsetzen. Doch dabei verletzten nicht nur seine engsten Unterstützer zum Teil selbst demokratische Prinzipien. Vielmehr wurde auch deutlich, dass die organisierte Basis für Demokratie in Afghanistan weiterhin sehr schwach ist. Zwar gibt es zurzeit durchaus gewichtige Gründe, die für die Zentralisierung der Macht in einem starken Präsidentenamt sprechen. Doch anders als beim Streit um die doppelte Staatsangehörigkeit von Ministern stand hier nie ernsthaft eine Übergangslösung zur Diskussion, die etwa dem Präsidenten nur so lange eine außerordentliche Machtfülle einräumt, wie er innerhalb des Landes mit bewaffneten Gruppen konfrontiert ist, und ihn danach stärker von parlamentarischer Zustimmung abhängig macht.
Sollte das Staatsoberhaupt womöglich bald nicht mehr Karsai heißen, weil er einem zweiten Attentatsversuch oder etwa einem Unfall zum Opfer fällt und dann ein Warlord oder Islamist Präsident wird, dürften viele Befürworter der jetzt auf Karsai maßgeschneiderten Verfassung die große Machtfülle des Präsidentenamtes bereuen.
Ohne Karsai könnte die auf Absprachen der Bonner Afghanistan-Konferenz zurückgehende Regierung schnell auseinander brechen. Die Gefahr neuer blutiger Machtkämpfe wäre groß. Es dürfte sich dann für die internationale Gemeinschaft rächen, so stark auf Karsai gesetzt und zu seiner Unterstützung sogar selbst demokratische Strukturen und Prozesse missachtet zu haben.
Zwei Jahre nach dem Sturz der Taliban sind demokratische Strukturen, Institutionen und Prozesse in Afghanistan noch so schwach, dass ohne das Aushängeschild Karsai die Zentralregierung wieder bei null anfangen müsste. Er ist zurzeit der einzige Politiker von nationaler Statur, der unter den einzelnen Ethnien und Machtgruppen als Präsident konsensfähig ist, wozu letztlich auch seine fehlende eigene Hausmacht beitragen dürfte. Seine größte Stütze sind nach wie vor die USA und die internationale Friedenstruppe in Kabul.
Neben der zurzeit stark anwachsenden Drogenproduktion beunruhigt, dass die Taliban und Anhänger des islamistischen Warlords Gulbuddin Hekmatjar ihren bewaffneten Widerstand ausweiten und dabei insbesondere im Süden große Regionen verunsichern. Nach Angaben der internationalen Friedenstruppe Isaf hat es allein von September bis November 2003 so viele sicherheitsrelevante Zwischenfälle gegeben wie in den zwölf Monaten davor. Die Angriffe drohen zur Zweiteilung des Landes zu führen: in halbwegs sichere Gebiete im Zentrum, Norden und Westen, die von internationaler Hilfe und Helfern erreicht werden, und solchen im Süden und Osten mit überwiegend paschtunischer Bevölkerung, die von Aufbauhilfe abgekoppelt und immer mehr zu Kampfzonen werden. Dies könnte zur Entfremdung der Paschtunen führen und – bei weiteren US-Fehlangriffen – dazu, dass sie sich dem Widerstand anschließen.
Das US-Militär hat inzwischen selbst eingestanden, dass die bisherige militärische Befriedungsstrategie nicht aufging. Sie sah vor, die Isaf-Friedenstruppe auf Kabul zu beschränken und ansonsten das Land mit Hilfe der US-geführten Antiterrortruppen und der im Aufbau befindlichen afghanischen Nationalarmee zu kontrollieren. Nun sollen „Provincial Reconstruction Teams“ (PRT) – kleine bewaffnete Einheiten mit militärischer Wiederaufbaukomponente – bereits bis März auf landesweit zwölf ausgedehnt werden. Dazu zählt auch das aus Deutschen rekrutierte Nato-PRT in Kundus. Erstmals sollen jetzt auch PRT in die südlichen „Taliban-Provinzen“ Orusgan und Sabul geschickt werden.
Angesichts der geringen Größe der PRT und ihres deshalb zum Beispiel im deutschen Fall ausdrücklich nicht vorgesehenen Mandats der Drogenbekämpfung ist jedoch zu bezweifeln, ob sie einen größeren Einfluss werden gewinnen können. Vielmehr ist zu befürchten, dass sie den Warlords unfreiwillig den Rücken freihalten werden, indem sie das Aufkommen lästiger Konkurrenz verhindern.
Zwei Jahre nach dem Sturz der Taliban ist die Situation in Afghanistan äußerst labil. Mit der Verabschiedung der Verfassung ist zwar eine weitere Etappe des im Bonner Petersberg-Abkommen vorgesehenen Fahrplans erreicht worden. Doch eine wirksame Befriedung des Landes hat bisher so wenig stattgefunden, wie die Grundlagen für eine echte Demokratisierung geschaffen werden konnten. SVEN HANSEN