: Italiens Polizei tappt im Dunkeln
Anti-EU-Briefbomben führen die Ermittler wegen ihrer Machart auf die Spur der Anarcho-Insurrektionalisten. Sie unterscheiden sich deutlich von den Roten Brigaden und haben zahllose Anschläge verübt. Angeblich sind die 250 Namen der Szene bekannt
AUS ROM MICHAEL BRAUN
Wer ist der Absender der Briefbomben, die seit einigen Tagen bei den europäischen Institutionen eingehen? Bekennerschreiben liegen nicht vor, doch Italiens Polizei ebenso wie der Innenminister zeigen keine Spur von Zweifel: Die Täter seien in den Kreisen der italienischen Anarcho-Insurrektionalisten zu suchen. Dafür spreche nicht nur, dass einige der explosiven Sendungen zweifelsfrei in Bologna aufgegeben wurden, nicht nur, dass ebendort am 22. Dezember zwei Müllcontainer direkt vor der Wohnung Romano Prodis mit kleinen Sprengsätzen abgefackelt wurden, nicht nur, dass wenigstens zu diesem Anschlag sich die „Kooperative Feuer und Ähnliches (manchmal Spektakuläres)“ bekannte.
Es ist vor allem die Machart der Bömbchen, die für die Ermittler auf die anarcho-insurrektionalistische Spur führt. Kleine Do-it-yourself-Sprengsätze, entweder direkt am Anschlagsort platziert oder per Post versandt – sie waren und sind das Markenzeichen eines Terrorismus, der sich erkennbar von dem der Roten Brigaden unterscheidet. Seit den späten Achtzigerjahren wirken in Italien kleine Grüppchen von Anarcho-Insurrektionalisten. Spätestens in der zweiten Hälfte der Neunziger schafften sie sich Aufmerksamkeit, teils mit ökologisch motivierten Anschlägen – zum Beispiel gegen die Baustellen einer Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnlinie –, teils mit Anschlägen, die direkt auf die staatlichen Institutionen zielten, Kasernen, Rathäuser, Gerichtsgebäude.
Wenn sich jemand zu den Attentaten bekannte, dann lieferte er meist einen völlig unbekannten Namen, wie die „Kooperative Feuer“, die „Fünf C“ (Zellen gegen Kapital, Kerker, Kerkermeister und Haftzellen) oder die FAI, die „Informelle Anarchistische Föderation“, die das Kürzel der völlig friedlichen „Italienischen Anarchistischen Föderation“ kurzerhand mit Beschlag belegte. Und wenn es Bekennerbriefe gab, dann waren die voller heftiger Angriffe gegen die „Unterdrücker“, aber auch gegen vermeintliche Verräter wie die Bewegung der „Ungehorsamen“. Ebenso strikt aber grenzten sie sich von den Roten Brigaden ab. Statt „Angriff auf das Herz des Staates“ durch einen Eliteterrorismus wird da ein „horizontaler“ Kampf theoretisiert, vorgetragen „weder durch Spezialisten noch durch Soldaten“ und gerichtet gegen „jedwede Ebene, vom König bis zum letzten Infanteristen, die am globalen Massaker beteiligt ist“.
Tote gab es bei den bisherigen Anschlägen nicht – wohl aber zweimal Schwerverletzte. Direkt vor dem G-8-Gipfel in Genua explodierte eine Briefbombe in den Händen eines Carabiniere, und vor wenigen Wochen war es erneut ein Carabiniere, der in Rom Opfer eines Anschlags wurde. Trotz mittlerweile hunderter Anschläge tappt Italiens Polizei bisher im Dunkeln. Zwar verkündet der Innenminister, man kenne durch die Bank die 250 Namen derer, die sich im anarcho-insurrektionalistischen Milieu herumtreiben – wer aber strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist, bleibt unbekannt. Der Vorwurf einer terroristischen Vereinigung à la Rote Brigaden lässt sich kaum erheben, denn die Anschläge werden von Ad-hoc-Grüppchen begangen. Dennoch fragt sich so mancher Beobachter, ob die Polizei nun wegen Unfähigkeit oder wegen mangelnden Willens seit bald 15 Jahren im Dunkeln tappt.