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Archiv-Artikel

Reine Kopfsache

Kohl ist Delikatesse und Gesundheitstipp. Und trotzdem gilt das Gemüse noch immer als unfein. Eine Mensch-Pflanze-Beziehung, die irritiert

DER HUND DER PFLANZENWELT

Von Grünkohl, den schon die alten Griechen kannten, bis zum Rosenkohl, der erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstand: Alle Kohlarten gehen auf den Wildkohl zurück, der bis heute an der Mittelmeerküste und an der Felsenküste des Atlantiks von der Biskaya bis zum Ärmelkanal wächst. Aus diesem „Urkohl“ entwickelten sich in kürzester Zeit die unterschiedlichsten Formen von Blatt-, Stamm-, Kopf- und Blütenstandskohl. Der Grund dafür waren natürliche Mutationen sowie Kreuzungen und Auslese durch Menschenhand, die das Gemüse in unkomplizierter Weise akzeptiert: Alle wilden und gezüchteten Kohlarten sind miteinander kreuzbar. Eine Tatsache, die dem Gemüse den Beinamen „Hund der Pflanzenwelt“ eingebracht hat. Selbst der Pekinese stammt vom Wolf ab. In der Antike als Delikatesse und Heilmittel – insbesondere nach zuviel Wein – verehrt und verzehrt, brachte der Vitaminlieferant im Mittelalter breite Bevölkerungsschichten durch den Winter. Im 16. Jahrhundert wurde er zum Motor der Kolonisation: Sauerkraut sei Dank, starben nicht mehr so viele Seemänner an Skorbut. Wohl auch deshalb setzte sich in feudalen und bürgerlichen Kreisen schnell sein Ruf als „Arme-Leute-Essen“ durch. MB

VON MATHIAS BECKER

Wenn Hubert Nickels „Kohlstrunksuppe“ sagt, dann ohne die Nase zu rümpfen. Nickels ist Jahrgang 1941 und als er ein Kind war, brauchte man bei Tisch nur den Löffel. „Es gab immer Suppe, meistens mit Kohl, manchmal mit Dithmarscher Ananas“. So nennen sie ihre Steckrüben an der Küste.

Für Nickels, der im größten zusammenhängenden Kohlanbaugebiet Europas lebt, ist das Gemüse bis heute Lebensgrundlage. Auf 3.000 Hektar wachsen im Dithmarscher Land Weiß-, Rot-, Wirsing-, Spitz-, China-, Blumen-, Rosenkohl. Selbst japanischer Zierkohl und die verwandten Kohlrabi und Fenchel. 80 Millionen Köpfe entlocken die Menschen ihrem fruchtbaren Boden hier jährlich. Das Gemüse rollt nach halb Europa. Jedes Jahr im September feiern sie die Mega-Ernte mit den „Dithmarscher Kohltagen“.

Nickels erntet nicht, er veredelt. Und schwört auf die heilenden Kräfte des Gewächses. In seiner „Kohlwerkstatt“ in Wesselburen bei Dithmarschen hat er einen Weg gefunden, Sauerkraut herzustellen, ohne den Weißkohl zu kochen. Das schont die Vitamine. Aus dem Saft der Pflanze gewinnt er Shampoo und eine Salbe, von der Kunden ihm schreiben, sie wirke gegen Gürtelrose und Neurodermitis. Ganze Busladungen pilgern aus Sankt Peter-Ording nach Wesselburen, auf der Jagd nach Nickels exklusiver Ware.

Dass Kohl zu dem Gesündesten gehört, was der heimische Boden hergibt, kann Anna Klinke von der „Zentrale für Ernährungsberatung“ in Bergedorf bestätigen. „Sein hoher Anteil an Vitamin C stärkt die Abwehrkräfte des Körpers“, sagt die Ökotrophologin. Zudem enthalte Kohl Folsäure, Kalium, Magnesium, Calcium und Eisen. „In 100 Gramm Grünkohl ist mehr Eisen, als in einem Schweinekotelett“, sagt Klinke.

Eine Autostunde entfernt von den Äckern Dithmarschens, an der Elbchaussee, thront das Hotel „Louis C. Jacob“ am Uferhang. Die Küche des Hauses gilt als die beste der Stadt und hat – von Gault Millau bis Michelin – jeden Gastro-Orden erhalten, der zu vergeben ist. Wenn man hier isst, dann nicht des Hungers wegen.

Für Thomas Martin, seit zwölf Jahren Küchenchef im Louis C. Jacob, ist Kohl eine Selbstverständlichkeit in der Kühlkammer. „Regionale Zutaten gehören einfach dazu“, sagt er – und kocht Wirsingpüree mit Speck und Schalotten zu Wildgerichten oder Spitzkohl mit einem Schuss Portwein zu Kaninchen, am liebsten aber Rotkohl zu seiner berühmten „Vierländer Ente“. „Kohl hat ein tolles, kräftiges Aroma“, sagt der Sternekoch. Er empfiehlt seinen Kollegen: „Der gehört auf die Speisekarte.“

Nach dem Krieg war Kohl Lebensretter, dann als „Arme-Leute-Essen“ verschrien. Günstig, gesund, delikat – und unbeliebt. Kohl ist das Gemüse gewordene Imageproblem. Da können sich noch so viele Jamie Olivers um seine Rehabilitation bemühen: Zwischen Mini-Auberginen und gelben Tomaten sieht das bodenständige Grünzeug immer etwas unbeholfen aus. Die Lust auf „leichte Kost“ beschert ihm einen festen Platz im Schatten von Paprika oder Zucchini.

Allein der Umfang vieler seiner Vertreter macht Kohl zu einem Anachronismus. Mit der Banane etwa hat es die Natur hinsichtlich der Ansprüche einer Single-Gesellschaft besser gemeint. Und hat man das Ungetüm endlich zerlegt und im Topf versenkt, wird es prompt zur olfaktorischen Herausforderung. Ganz zu schweigen von seinen möglichen Nachwirkungen.

„Gegen den Geruch in der Küche hilft Kümmel im Kochwasser“, sagt Küchenchef Martin. „Langsamer essen und danach einen Spaziergang machen“, rät Ernährungswissenschaftlerin Klinke. Die Hausmedizin empfiehlt Fenchelsamen- oder Kamillentee. Geben wir dem Kohl eine Chance – wir sind es ihm schuldig.