Fürs Bleiben nicht gerüstet

Aus Wut wird Neugier, aus Denunziantentum heimliche Protektion: Der iranische Filmemacher Majid Majidi erzählt in „Baran“ eine wunderbar indirekte Liebesgeschichte wie auch eine kluge Allegorie

Wie Kleinstorganismen in einem Kadaver kämpfen sich die Bauarbeiter in einem der vielen Hausskelette am Rande einer iranischen Stadt ab. Sie schleppen Säcke in endlosen Schleifen. Von der Tiefgarage über vier, fünf Stockwerke bis zum Flachdach. Sie beschimpfen sich, wenn einer vor ihnen ins Trudeln kommt. Oder wenn der Tee zu dünn geraten ist. Doch die Pausen sind die einzigen Momente, in denen sie über dem Dampf ihrer Becher in den Tag horchen. Als könne es da noch etwas geben, was ihn anders macht als all die anderen. Für die Arbeit haben viele von ihnen ihr Land verlassen. Afghanen, Kurden, Türken und Iraner bilden hier eine seltsame Männergemeinschaft, in der nationale und ethnische Spannungen hinter der täglichen Plackerei zurücktreten. Wenn die Regierung ihre Kontrolleure vorbeischickt, sind es vor allem die Afghanen, die in grotesker Hetzjagd verfolgt, gestellt und schließlich nach Hause geschickt werden. Legal arbeitet fast niemand hier. Doch das Verbotenste auf dieser Baustelle sind nicht die Schwarzarbeiter. Es ist das afghanische Mädchen Baran (Zahra Bahrami). Als stummer Junge, mit dem Namen Rahmat, hat sie sich unter die Männer gemogelt, um als Familienernährer für den Großvater einzuspringen, der auf der Baustelle bei einem Sturz schwer verletzt wurde. Und weil sie für die Schlepperei nicht taugt, arbeitet sie in der Küche. Ihre Versetzung vertreibt Lateef (Hossein Abendini) aus seiner bequemen Stellung als Koch zurück in die Arbeitskolonne. Doch aus seiner Wut wird Neugier, aus Denunziantentum heimliche Protektion. Denn Lateef hat Barans Geheimnis entdeckt. Er hat gesehen, wie sie sich kämmt, und gehört, wie sie singt. Am nächsten Morgen trägt er ein rotes Hemd. Seine Haare sind geölt und seine Blicke geputzt.

„Baran“ ist eine wunderbar indirekte Liebesgeschichte, in der der eine nichts anderes tun kann, als dem anderen beim Verschwinden zuzusehen. Und es ist zugleich eine kluge Allegorie auf ein Land der abstrakten Investoren, der gefürchteten Kontrolle und realen Not und Vertreibung. Der Film von Majid Majidi steht dabei ganz in der Tradition eines Realismus, der mit Bahman Ghobadis „Zeit der trunkenen Pferde“ (2001), Bahram Beyzais „Bashu, der kleine Fremde“ (1989) bis Jafar Panahis „Weißer Ballon“ (1995) auch in Europa bekannt wurde. Filme mit Kinder- und Jugendlichen-Darstellern sind inzwischen fast so etwas wie ein Exportschlager. Majidis „Kinder des Himmels“ (1997), der die Geschichte von zwei Geschwistern erzählt, die sich ein Schuhpaar teilen müssen, weil die kleine Schwester ihres verloren hat, wurde als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert.

Dass kindliche Protagonisten im Iran so beliebt sind, hat dabei weniger etwas mit kalkulierter Rührung zu tun als mit der Grundsituation der Minderjährigen, die in die Anforderungen der Familie, des Systems, der materiellen Not, aber auch in die ihres Geschlechts erst noch hineinwachsen müssen. Nicht mehr ganz unschuldig, aber frei von jedem Verdacht, als Propagandisten für staatliche Dogmen ins Feld zu ziehen, lassen sich so Geschichten mit einer vordergründigen Distanz zum eigenen Land entwickeln. Und so schmuggeln die Jungen und Mädchen oft nicht nur verbotene Ware über Grenzen, sondern auch manche verbotene Wahrheit an der Zensur vorbei.

Auch „Baran“, was übersetzt „Regen“ bedeutet, wird so in mehrfacher Hinsicht zur Geheimnisträgerin. Im falschen Geschlecht, im falschen Land mit der falschen Herkunft gibt es für sie hier keinen festen Boden. Sie mag Tauben füttern oder die Baustelle mit Vorhängen und Tischdecken dekorieren. Fürs Bleiben ist sie nicht ausgerüstet. Und mit dem Fliehen hat sie Erfahrung.

Als Lateef sie am Ende tatsächlich wieder findet, bleibt dem Jungen, wie dem älteren Bruder in „Kinder des Himmels“, nichts anderes übrig, als Baran den Schuh anzuziehen, den sie im Matsch verloren hat. Damit sie aufsteht und den Weg zurück nach Afghanistan antritt. Wenn Baran dann den Schleier übers Gesicht legt, ist das wie ein Schnitt. Dann macht auch der Film kurz die Augen zu. Solche Abschiede kennt er scheinbar nur zu gut. BIRGIT GLOMBITZA

„Baran“. Buch/Regie: Majid Majidi. Mit Zahra Bahrami, Hossein Abendini. Iran 2001, 95 Min.