Sie springen nicht

Jeder ist für sich und am Rande seiner Kräfte: Der Spielfilm „Broken Wings“ des israelischen Regisseurs Nir Berman zeigt, welche Verwerfungen der Tod des Vaters in einer Familie bewirkt. Das Leitmotiv der zerbrochenen Flügel wird subtil eingesetzt

„Ich bin eine schlechte Mutter. Ich habe den Motor ausgehen lassen!“

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Das Schlimmste ist schon passiert, bevor der Film beginnt. Man sieht es der ganzen Familie an. Der 17 Jahre alten Maya, die mit ihrer Band gerade Soundcheck hat für ein Konzert, an dem sie dann doch nicht teilnehmen kann. Ihrem um ein Jahr jüngeren Bruder Yair, der mit demonstrativer Gleichgültigkeit als Mickymaus verkleidet Werbezettel verteilt und dauernd Dinge sagt wie: „Dieses Gespräch existiert nicht.“ Oder: „Wir sind alle bloß Staubkörner.“ Wenn er besonders nett zu seiner Schwester sein will, nennt er sie „Skelett“, was sie natürlich ärgert.

Dünn und bleich sind sie alle, auch ihr kleiner Bruder Ido, der kaum ein Wort redet, und Bahr, die als Jüngste zu spüren bekommt, dass sie eine Bürde ist, weil sie noch nicht allein über die Straße gehen kann und sehr angewiesen ist auf die anderen. Denn Mutter Dafna arbeitet im Schichtdienst als Hebamme in einem Krankenhaus, und auch ihr Gesicht ist von wächserner Durchsichtigkeit. Die geringste Bewegung scheint ihr überdurchschnittlich viel Energie abzuverlangen. So ist jeder für sich am Rande seiner Kräfte und völlig mit dem bloßen Überleben beschäftigt; ein familiäres Zusammenleben gibt es bei den Ulmans nicht mehr.

Was passiert ist, erfährt man in Andeutungen aus dem Lied, das Maya anfangs mit ihrer Band singt. Sie hat es selbst geschrieben und ihrem Vater gewidmet. „Ich wollte dir noch so viel sagen.“ Erst sehr viel später erzählt jemand Genaueres von jenem denkbar banalen Alltagsunfall, der den Vater das Leben kostete: Der Allergiker wurde von einer Biene gestochen und konnte sein Gegenmittel nicht mehr rechtzeitig einnehmen. Man versteht das Ausmaß der Wut, die Yair durch Blasiertheit und verbalen Nihilismus nur mühsam im Zaum hält.

Nir Bermans „Broken Wings“ ist ein trauriger und berührender Film, in dem man von der ersten bis zur letzten Minute weinen könnte. Was schade wäre, weil man dabei Gefahr liefe, die Feinheiten des Films zu verpassen. Zum Beispiel die Subtilität, mit der er sein Titelthema der „Broken Wings“ behandelt. Bei ihrem ersten Auftritt trägt Maya durchsichtige Flügel auf dem Rücken, die vor allem daran erinnern, wie mädchenhaft sie trotz ihres erwachsenen Aussehens noch ist.

Der kleine Ido übt das Fliegen, indem er immer wieder ins leere Becken eines Schwimmbads springt und sich dabei selbst zu filmen versucht. Die broken wings sind ein Bild für die unterbrochene, abgestürzte Lebenslinie; für Yair aber wird der Verzicht aufs Fliegen zu einer Entscheidung für das Leben. Mit einer selbstmordgefährdeten Freundin findet er sich eines Nachts im Schulgebäude wieder. In der pubertären Bereitschaft, sich aufzugeben, setzen sie sich nackt ins Fenster des sechsten Stocks. Und springen dann doch nicht.

Während Yair in dieser Nacht durch ein Gespräch am Abgrund zurück ins Leben findet, droht der Rest der Familie endgültig zu zerbrechen. Ido liegt nach einem verunglückten Sprung im Koma. Die von Schuldgefühlen zermarterte Maya – sie war nicht rechtzeitig da – flieht aus der Stadt. Was zunächst wie das einer alten Regel nachfolgende Unglück wirkt, mit dem keiner der Überforderten mehr fertig werden kann, wird zum Anstoß einer heilsamen Trauerarbeit. Mayas „Schuld“ an Idos Unfall macht es möglich, eine andere, schwerere Schuld auszusprechen: Wegen ihr hielt der Vater an jener Stelle an, an der ihn der tödliche Stich erreichte.

Trotz dieser Unglückshäufungen und schuldhaften Verstrickungen ist „Broken Wings“ kein Melodram. Von Zeit zu Zeit gibt Valentin, ein Arbeitskollege Dafnas, durch seine Tollpatschigkeit ihr und dem Zuschauer Gelegenheit zur Erleichterung durch Lachen, und seine melancholischen Blicke auf die traurige Frau weisen ihn als Liebesmöglichkeit der Zukunft aus. Auch das Auto, das nie starten will, wenn es am meisten gebraucht wird, sorgt dafür, dass existenzielle Auswegslosigkeit in banal-alltägliche umgedeutet werden kann: „Ich bin eine schlechte Mutter! Ich habe den Motor ausgehen lassen!“

Es hätte doch alles noch viel schlimmer kommen können, will Maya gegen Ende von „Broken Wings“ von ihrem Bruder Yair bestätigt wissen, als liege darin eine Hoffnung für die Zukunft. Und tatsächlich beinhaltet dieses schmerzhafte Eingeständnis ein zum Melodram ganz gegenläufiges Moment. Sie haben die Chance weiterzumachen, weshalb man, so sehr man während des Films weint, am Ende doch wie getröstet ist.