Begehren als Weltanbindung

Der Wahlberliner David Moss ist nicht nur ein vielseitiger und experimentierfreudiger Sänger, sondern er gehört auch zu den ersten Fellows am neu gegründeten Kolleg „Verflechtungen von Theaterkulturen“ an der FU. Im Ballhaus Ost ist er nun in der Sci-Fi-Oper „Starship Utopia“ zu sehen

VON TIM CASPAR BOEHME

„Ich habe vom Schlagzeugspielen sehr viel gelernt“, sagt Moss, „jeder Muskel hat einen Einfluss auf den Rest des Körpers. Der Körper ist ein einziges Informationssystem.“ Durch das Bewusstsein für diese Kontrolle kann der 1949 in New York geborene Wahlberliner seine Stimme wie ein Schlagzeugset bedienen.

Moss ist wie kaum ein anderer Sänger in der Lage, von der tiefsten Lage in höchste Höhen zu wechseln oder Timbre und Ausdruck von einer Sekunde zur nächsten „umzuschalten“. Einen guten Eindruck seiner Vokalkunst kann man derzeit in der Sci-Fi-Oper „Starship Utopia“ am Ballhaus Ost bekommen, einer Produktion des Duos Ohrpilot, mit dem Moss schon zuvor zusammengearbeitet hat.

Nach Berlin kam Moss 1991 mit einem Stipendium für das Künstlerprogramm des DAAD. Die Stadt kannte er schon von Tourneen mit diversen Gruppen. „Ich hatte nie eine persönliche Beziehung zu Berlin. Ich wollte lieber in Florenz oder Mailand leben.“

Doch als er vom DAAD eingeladen wurde, sagte er sich: „Okay, versuche ich es für ein Jahr mit Berlin. Und es war wirklich gut und anregend, dabei sind sehr starke Verbindungen entstanden.“

Macht der Erwartung

In seiner Arbeit spielt das Bewusstsein für das eigene Tun eine entscheidende Rolle. Vor acht Jahren gründete er zusammen mit dem belgischen Musiktheater Transparent das „Institute for Living Voice“, das einmal im Jahr in einer jeweils anderen Stadt, zuletzt in Rotterdam, zu Workshops und Seminaren einlädt. Als künstlerischer Leiter ist er bemüht, seinen Studenten eine Haltung zu vermitteln: „Ich rate meinen Schülern oft, bei der eigenen Arbeit einen Schritt zurückzutreten und sich zu beobachten, um das Potenzial in ihrer Arbeit besser zu erkennen.“ Der kreative Gebrauch des eigenen Potenzials, den diese reflexive Haltung ermögliche, sei entscheidend für die künstlerische Entwicklung. Doch bloße Reflexion ist nutzlos, wenn man keinen Begriff vom Begehren hat, das einen bei der Arbeit antreibt: „Das Begehren bindet einen an die Welt. Ohne Begehren ist man ein concept floater“, also jemand, der sich von Konzept zu Konzept treiben lässt, ohne Vorstellung davon, was er mit seiner Arbeit eigentlich will.

Das hohe Reflexionsniveau, auf dem Moss über die Bedingungen künstlerischen Arbeitens nachdenkt, und die Breite seiner Erfahrungen prädestinieren ihn gewissermaßen als Fellow für das Mitte Oktober neu eröffnete Forschungskolleg „Verflechtungen von Theaterkulturen“ an der FU Berlin. Er ist der einzige Künstler neben neun internationalen Wissenschaftlern, der für ein Jahr hier ein Forschungsprojekt verfolgen kann. Er hat sich das Thema „Das Performative säen: Die Macht der Erwartung“ gesetzt. Moss, dessen künstlerische Erfahrungen von Solokonzerten in Museen über die Rolle des Prinz Orlowski in Johann Strauß’ Operette „Die Fledermaus“ bei den Salzburger Festspielen bis zum Dirigieren von mehreren hundert Sängern auf offener Straße reichen, kennt den Kunstbetrieb aus sehr vielen verschiedenen Perspektiven. Doch einer Sache ist er immer wieder begegnet: Die Erwartungshaltungen zu Beginn eines Projekts wirkten als Vorstrukturierungen „mit erheblichem Einfluss auf das Ergebnis. Doch niemand spricht groß darüber“, meint er.

Moss weiß aus eigener Erfahrung, wie stark die Vorgespräche für ein Projekt die eigene Erwartung bestimmen und wie sehr das Übergehen oder Ignorieren der gegenseitigen Ansprüche den Erfolg der Arbeit beeinträchtigen kann. So gäben schon die ersten Fragen eines Castingleiters vor, wie ein Darsteller an eine Produktion herangehe, wie er sie sehe und wie er sich daran beteilige.

Kreative Unabhängigkeit

In seinem Projekt will Moss einen anonymen Onlinefragebogen für darstellende Künstler entwickeln, in dem sie ihre Erfahrungen mit Erwartungshaltungen schildern können. Er hofft, auf diesem Wege neue Antworten auf die Frage zu bekommen, wie sich Erwartungshaltungen produktiv für die Arbeit nutzen lassen.

Denn an irgendeinem Punkt im kreativen Prozess müsse jeder Beteiligte dahin gelangen, zu sagen: „Ich mache es, weil ich es liebe und keine andere Wahl habe. Diesen Gedanken sollte im Idealfall jede Person haben.“ Kreative Unabhängigkeit war für Moss stets wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Als er in den späten Siebzigern mit den anderen Pionieren der New Yorker Avantgarde-Szene wie Fred Frith, John Zorn, Arto Lindsay oder Bill Laswell zusammenarbeitete, störte ihn der starke Wettbewerb der Musiker um Virtuosität, Aufträge oder Anerkennung. „Ich entschied mich, New York zu verlassen, um nicht tagtäglich im Zentrum des Wettbewerbs zu sein.“ Stattdessen pendelte er Woche für Woche von Vermont nach New York. Dieser Schritt habe ihm geholfen, sich nicht ständig fragen zu müssen: „Kann ich es besser oder anders machen als die anderen?“, sondern sich ganz auf die Frage „Kann ich es so machen, wie ich will?“ zu konzentrieren. „Diese Einstellung hat mein Leben bis heute geprägt.“

„Starship Utopia“, Ballhaus Ost, nächste Aufführungen 12. und 13. November, 20 Uhr