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Archiv-Artikel

Der Klang der Gene

DAS SCHLAGLOCH     von MATHIAS GREFFRATH

Rein molekular gesehen helfen eine Hühnersuppe, Toast und drei Tage Ruhe so viel wie dieses Präparat

„Wollen Sie das Mäuse-Gen einmal hören?“ Hören? Wir müssen ziemlich dumm ausgesehen haben. Susumo Ohno lächelte leise, zog an seiner Pfeife, griff in die Schublade unter seinem Schreibtisch, kramte eine Weile, bis er die Kassette gefunden hatte, legte sie etwas umständlich in einen vorsintflutlichen Recorder und drückte dann die Taste. Was wir hörten, gespielt von Cello und Klavier, klang wie eine Sonate von Brahms. Ein Thema mit unendlichen Variationen.

Susumo Ohno fällt mir immer dann ein, wenn wieder ein Durchbruch in der Gentechnologie gemeldet oder wenn, wie in diesen Tagen, die erste Darstellung des DNA-Moleküls durch Watson und Crick gefeiert wird, in Artikeln, die „Der Dreh mit dem Gen“ überschrieben sind, oder „Windungen des Schicksals“. Susumo Ohno war ein Molekularbiologe und Krebsforscher in Kalifornien. An die Abschaffung von Krebs glaubte er nicht, er hielt ihn nicht für eine Krankheit. Irgendwann hatte er sich aus Neugier den langen Abschnitten der DNA zugewandt, die angeblich zu nichts nutze waren und deshalb von den Kollegen „junk-DNA“ genannt wurden. In ihnen hatte er dieses Spiel der Variationen gefunden, in anderen Abschnitten poetische, palindromartige Wiederholungen der Molekülabschnitte oder Strukturen, die nach den Proportionen des Goldenen Schnitts gebildet waren.

Als vor 14 Jahren das Human Genome Project begann, hieß es, Gentherapie werde schon bald unheilbare Krankheiten heilen, einige Forscher in Los Alamos rechneten nur noch mit Jahren, bis die Entdeckung des Legasthenie-Gens ihren Kindern zugute kommen könnte, und in Hannover meinten sie, in drei, vier Jahren werde die Mukoviszidose heilbar sein. Als vor drei Jahren die Ausbuchstabierung des Genoms verkündet wurde, druckte die FAZ einen langen Buchstabensalat ab und verglich das Erbmolekül mit den „Minen und Bergwerken“ des 19. Jahrhunderts, aus denen Wundermedikamente, Ersatzorgane und allerlei andere Wünschbarkeiten gefördert werden. Der Gen-Unternehmer Craig Venter, mit Columbus verglichen, versprach, in zwei Jahren werde die Welt tief greifend verändert sein. Im Gegenzug warnen seither Ethiker und Humanisten vor geklonten Menschen und Designer-Babies, verurteilen die Verwertung von Embryonen in der Stammzellenforschung.

„Passiver Widerstand und gesetzliches Verbot werden nichts gegen die genombewaffnete Biotechnologie ausrichten“, schreibt dieser Tage Jens Reich zum Jubiläumstag der Doppelhelix. Das ist wohl so, denn die Doppelhelix der Biotechnologie ist aus Wissen und Kapital gewirkt. Und das Versprechen einer wirksameren Individualmedizin killt jeden ethischen Einwand, auch wenn die Realisten auf lange Sicht wenig mehr sehen als immer bessere Diagnosen und maßgeschneiderte, lebenslange pharmakologische Korrekturen. Aber selbst wenn der Fortschritt der Medizinforschung demnächst keine Kollateralschäden mehr produziert, wie springende Pflanzengene, kurzlebige Klonschafe oder Blutkrebs als Folge von Gentransfer – gibt es denn keinen dritten Weg zwischen dem Totalwerden der mechanistischen Biomedizin und einem schwächelnden goethehumanistischen Einspruch?

Ich habe einmal einen Biologen erlebt, der hieß Gottfried Schatz und konnte die Geschichte unserer vier Milliarden alten Evolution in zwanzig Minuten erzählen: von der Ursuppe, in der ultraviolettes Licht und gigantische Blitze die ersten zuckerähnlichen Organismen erzeugten, über die ersten lebenden Zellen, die sich davon ernährten, und, als sie den Zucker verzehrt hatten, nach Jahrmillionen untergingen. Bis auf diejenigen, die gelernt hatten, aus Sonnenlicht Energie zu gewinnen. Damit setzten sie Sauerstoff frei, der sie schließlich verbrannte. Bis auf diejenigen, die gelernt hatten, sich vor Oxydation zu schützen mit ersten Formen der Atmung. Und diese Jahrmilliarden alten Zellen leben weiter in allen kommenden Stufen des Lebens – sie finden sich heute unverändert in unseren Lungenzellen. Sie leben in immer komplexeren Zellverbänden, deren Strukturen immer reicher wurden, so reich, dass sie nur ein Bruchteil ihrer DNA und ihrer Proteine zum Überleben brauchen, und damit frei werden für Komplexität, für Wechselwirkungen mit ihrer Umwelt. Und für Neubildungen.

Evolution ist Freiheit zur Entwicklung, sie entsteht aus Überfluss, sagt Gottfried Schatz, und auch da fiel mir wieder Susumo Ohno ein, der in diesem Überfluss etwas Wunderbares entdeckt hatte: diese freie DNA spielt offenbar mit sich selbst, wenn sie gerade nichts zu tun hat, spielt mit Formen, die wir am Ende der Evolution in Kunst und Klang und Harmonie verwandeln. Oder wiederfinden? „Die Gnade unseres großen Genoms“, meint Schatz, mache nicht nur aus jedem Menschen ein unverwechselbares Individuum“, sie sei auch die Grundlage unserer Freiheit zu lernen – und unserer Menschenwürde. Denn jeder von uns trägt in seinen Zellen die Geschichte des Lebens. Darin liege die „philosophische Brisanz“, die „tiefere Erkenntnis“ der Gentechnik.

Ich meine gesehen zu haben, wie in Gottfried Schatzens Gesicht auch nach 25 Jahren Forscherleben eine Art weltfrommer Ergriffenheit leuchtete. Und ein Gedanke daran, was Wissenschaft eigentlich will: zu wissen, was die Welt zusammenhält. Wer so fragt, entdeckt die Geschichte der Erde und den Tanz der Moleküle in unseren Zellen.

Evolution istFreiheit zurEntwicklung,sie entstehtaus Überfluss

Der Gedanke hat wohl wirklich ganz unromantische „philosophische Brisanz“. Unsere Würde, und unsere Verantwortung: begründet nicht aus göttlicher Privilegierung, idealistischer Überhebung, Macherkraft oder abgesperrter Individualität, sondern daraus, dass wir die Erben sind – der ganzen Geschichte. Das könnte verpflichten. „Natürlich kann es sein“, sagte mir damals in Los Angeles ein Kollege von Susumo Ohno, „dass wir mit unserem Forschen am Ende nur beweisen können, dass es nicht genetische Defekte sind, die ein Abwehrsystem schwächen, sondern der Zustand der Welt. Aber es ist leichter, den Einzelnen zu helfen, als den zu ändern.“

Ich habe einmal den Präsidenten der DFG gefragt, wie eine vom Druck der Verwertbarkeit freie Grundlagenforschung aussähe. Er schwieg nur kurz, dann brach es aus ihm heraus: „Es wäre das Paradies.“ Der Weg in dieses Paradies bestünde aus vielen Schritten: aus der Verpflichtung der öffentlich bezahlten Forscher, uns derlei Wissen zu geben, mindestens ebenso laut wie die Drittmittel heischenden Versprechen; aus der Verpflichtung der Industrie, diese Versprechen selbst zu finanzieren; aus der Ausbildung von Lehrern, die so begeistern können wie Herr Schatz; aus Apothekern, die uns sagten: Rein molekular gesehen bewirken eine Hühnersuppe, Toast und drei Tage Ruhe dasselbe wie dieses Präparat von Ciba-Geigy, nun wählen Sie bitte; aus Pflanzenbiologen, die aus Ökonomen der Optimierung zu Politikern der Vielfalt werden; aus Molekularbiologen, die von Evolutions-Ingenieuren zu Lebenswissenschaftlern werden, zu beseelten Materialisten. Zu solchen, die sich auf die Musik der Gene verstehen.