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Archiv-Artikel

Die große, graue Geisterstadt

In den Industrienationen schrumpfen die Städte. Wie so ein verschrumpelter Rest dann aussieht, das kann man sich in Detroit anschauen. Einst war hier der vibrierendste Industriestandort der Welt. Jetzt wirkt die Stadt wie ausgestorben

AUS DETROIT ADRIENNE WOLTERSDORF

Detroit kennt man. Schließlich ist die Stadt im Nordosten der USA die wahrscheinlich bekannteste Industriestadt der Welt, Kapitale des Automobils. Heimat und Sitz der drei weltgrößten Autokonzerne DaimlerChrysler, Ford und General Motors. Große Namen und eine großartige Skyline am Detroit River. Doch wo ist das große Geld geblieben? Wo die prächtigen Schaufenster des Hudson-Departmentstores? Wo die Menschen, ja selbst, wo sind die Autos geblieben?

Ampeln regeln einen nicht vorhandenen Verkehr, auf den Straßen vollführt nur der aus den Gullydeckeln aufsteigende Wasserdampf einen lebenslustigen Tanz. Eiskalter Wind pfeift um die Häuserblöcke, deren Fenster und Türen oft zugenagelt sind. „For sale“ steht auf einem Schild, das wohl schon zwei Jahrzehnte dort hängt. Monströse Schatten einer glanzvollen Vergangenheit, ein Totentanz der Industriegeschichte. Die wenigen Detroiter, rund 75.000, die in den benutzbaren Bürotürmen noch arbeiten, kommen mit dieser Stadt nur in den Tiefgaragen in Berührung. Selten begegnen sie denen, die draußen, zwischen den Ruinen des Reichtums herumstreunen: den Schwarzen, Bettlern oder Drogensüchtigen. Oft genug alles in einer Person.

Als Wiege des amerikanischen Wohlstands erlebte die einst von französischen Pelzhändlern gegründete Stadt in den vergangenen 100 Jahren einen beispiellosen Boom – gefolgt vom Absturz zur größten Geisterstadt. Detroit ist zwar in der urbanen Kultur Nordamerikas kein Einzelfall, doch das Ausmaß des Verfalls ist einzigartig.

Kein Geschäft, nirgends

Etwa 40 Prozent aller Innenstadtgebäude stehen leer. Zwischen der leblosen Haupt-Arterie Woodward Avenue, die sich vom Norden her durch die gesamte Innenstadt erstreckt, und der westlichen Ausfallstraße Michigan Avenue sind es sogar 80 Prozent. Downtown ist eine Brachfläche, in der sich einzelne Inseln des Lebens gehalten haben.

„Wo gibt es hier ein Geschäft, ich brauche eine Mütze gegen den kalten Wind?“, fragt eine Besucherin eine der wenigen weißen Frauen in Bürokleidung auf der Woodward. „Ein Geschäft?“, fragt diese überrascht und überlegt. Ein Geschäft gibt es hier nicht, sagt sie schließlich, aber 15 Meilen weiter draußen, da sei eine schöne, große Shoppingmall. Aha. Detroit existiert also gar nicht mehr, die Menschen sind westwärts weitergezogen und haben sich andernorts neue Städte gebaut.

Zehnspurige Freeways führen dorthin. Vor den gepflegten Einfamilienhäusern blinken immergleiche Schneemänner in den Vorgärten. Schilder warnen Fremde vor dem Eindringen in diese Welt: „Nachbarschaftswache – auffälliges Verhalten wird angezeigt“. „Keine zehn Pferde kriegen mich jemals wieder nach Detroit“, sagt Eileen Donohoe, Rentnerin aus Lincoln Park, einem südlichen Vorort. Sie wurde in Detroit geboren. Als junges Mädchen fuhr sie täglich mit der Bahn zur Michigan Railroad Station, einem 16-stöckigen, 1913 errichteten eleganten Bahnhofsgebäude. „Da war mehr los als in New York Grand Central. Jeden Tag kamen tausende neuer Leute in die Stadt und suchten nach Arbeit.“ Heute wachsen Büsche aus den kaputten Fenstern des Detroiter Hauptbahnhofs, die Bahngleise sind schon lange abmontiert. Nachdem Eileen vor Jahren mitten in Detroit von einem mit Drogen vollgedröhnten Autofahrer in einen schweren Unfall verwickelt wurde, will sie nie wieder nach Downtown. „Da ist eh nichts mehr zu retten.“

„Bullshit“ findet das Nancy Kaffer, eine 28-jährige Journalistin aus Alabama. Sie kam zum Studieren nach Detroit. Für das Stadtwrack Detroit verspürt sie eine „morbide Faszination“. Ihr Freund Allen, nur 13 Meilen von Detroit entfernt geboren und aufgewachsen, war noch nie in seinem Leben in der Stadt. Bis er Nancy kennen lernte. „Ich hab ihn einfach ins Auto gesetzt und ihn hineingefahren. Erst hatte er ziemlich Schiss, doch dann fand er es cool.“ Kurze Zeit später zogen die beiden, die als Gothic-Fans stets in schwarzer Kleidung erscheinen, in eines der wenigen renovierten Klinkergebäude der Innenstadt ein – „Lofts“ lautet der neue Detroiter Geheimtipp. Miete: immerhin rund 1.200 Dollar im Monat. Eine kleine Mittelschicht-Avantgarde beginnt es schick zu finden, eine Adresse in der toten Stadt zu haben.

Für diese Extravaganz sind Opfer zu bringen: Nie fahren Nancy oder Allen ohne verriegelte Autotüren in der Innenstadt herum, nie parken sie auf unbewachten Parkplätzen, nie gehen sie zu Fuß. Ein Kiosk oder Supermarkt ist ohnehin nicht in der Nähe. Die nächsten Kneipen für junge Weiße sind einige Meilen entfernt gelegen.

Ab und zu ist in ihrer Nachbarschaft aber richtig was los. Dann kommen die Fans der Detroit Lions oder der Detroit Tigers aus ihren Vororten mitten hinein nach Downtown gefahren. Die beiden Sportstadien sind nicht nur für sie und die Sportler Symbole der Hoffnung. Ende der 90er-Jahre wurden sie von der Stadtregierung als Großprojekte zur Wiederbelebung der Innenstadt errichtet. Dann wummern die Musikboxen, knallt das Popcorn – doch kaum ist das Spiel vorbei und die Fans in ihren Autos davongefahren, legt sich wieder unheimliche Stille über die City. Der nahe gelegene McDonald’s stimmt als Einziger der gesamten USA seine Öffnungszeiten mit den Spieltagen der National Football League ab.

Schuld an Detroits Misere ist der Aufstieg und Fall der Automobilindustrie. Und die damit verbundene urbane Monokultur. In den 60er- und 70er-Jahren, der großen Krisenzeit der US-Autoproduzenten, erfuhren die Arbeiter mancher Detroiter Fabrik am Morgen, dass ihr Werk am Mittag für immer schließen werde. Die „großen drei“ Ford, Chrysler und General Motors, reagierten auf die Absatzflaute mit der Schließung alter, ineffizienter Standorte und dem Aufbau moderner Fertigungsanlagen im Umland. Sie zogen dorthin, wo ein Großteil ihrer weißen Angestellten und Arbeiter längst wohnten. Ihnen wiederum folgten die Geschäfte. In Detroit selbst blieben nur die Schwarzen. Sie waren bald unter sich.

Detroit heute ist auch eine arme Stadt. Wer hier lebt, zahlt keine Steuern. Dessen Kinder gehen auf verwahrloste staatliche Schulen, in denen es nicht einmal Klopapier gibt und wo sie alles lernen, nur nicht lesen, schreiben, rechnen.

Spitze in der Mordstatistik

In den 90er-Jahren war Detroit USA-weit führend in der Kriminalitäts- und Mordstatistik, mit einer der höchsten Mordraten unter Jugendlichen. Charlene, eine junge schwarze Frau, die es aus dem Detroiter Ghetto ihrer Kindheit und Jugend in die Abendklasse des Henry Ford Community Colleges in Dearborn geschafft hat, sagt, sie werde alles tun, um zu verhindern, dass ihre Kinder in Detroit aufwachsen und zur Schule gehen müssen. „Wenn du dort anfängst, kannst du gleich aufhören“.

Während Detroit zu einer der ärmsten Kommunen Nordamerikas abstieg, zählt der nur wenige Meilen entfernte angrenzende Bezirk Oakland zu den zehn reichsten Counties der USA. Arm und Reich, Schwarz und Weiß, manchmal trennt nur eine Straßenkreuzung die Welten. So wie die „8 Mile“, die Straße im Norden Detroits, die dem Film mit Rapper Eminem den Titel gab und das schwarze Detroit vom seinen wohlhabenden weißen Suburbs trennt. Wer als Weißer in Downtown arbeitet, sieht zu, dass er bei Einbruch der Dunkelheit so schnell wie möglich wieder die 8 Mile passiert.

Wer arm ist in Detroit, für den gibt es kein Entrinnen. Ohne Geld kein Auto. Ohne Auto keinen Job. Denn der ist weit draußen in „Metropolitan Detroit“, wie die Vorstadtbewohner gern den kleinen Unterschied betonen. Bei der Frage, ob es ein öffentliches Verkehrssystem gibt, zucken die meisten nur mit den Schultern. Niemand weiß es so genau. Ja, doch, gelegentlich fährt ein Bus durch Motorcity, aber wer will schon mit altersschwachen Bussen und der Chance, ausgeraubt zu werden, reisen.

Auch bei den neuesten Visionen eines wiederbelebten Detroits spielt öffentlicher Nahverkehr keine Rolle. „Detroit heißt doch Motorcity“, witzelt etwas verlegen Peter Zeiler von der Detroiter Economic Growth Corporation, einer Art Entwicklungsagentur. Zwei- bis dreimal die Woche kutschiert er Besucher und Investoren durch die Ruinenviertel der Stadt und erklärt ihnen enthusiastisch, wie seine 56 Projekte aus Detroit wieder eine Stadt machen werden. Die „Verbesserungsinitiative“ soll Brachflächen, leer stehende Gebäude und verkommene Industrieruinen wieder auf Vordermann bringen. Bis zum Superbowl 2006 sollen rund 1.000 Lofts hergerichtet sein, hektargroße Areale entlang der Woodward mit Einfamilienhäusern bebaut und die Wayne State University ein nationales Zentrum für die Erforschung alternativer Energien werden.

Nicht zum ersten Mal ruft das Detroiter Rathaus die „Renaissance“ aus. Viele Menschen fragten sich, was das große Projekt sein werde, das allen wieder Mut machen wird. Im November war es dann endlich so weit. Tagelang jubelten die Zeitungen auf der Titelseite: „Zwei Ketten eröffnen in Detroit Geschäfte“. In der Stadt, die einst die Wiege des amerikanischen Wohlstands gewesen war, hatte ein Buchladen und eine Filiale des Hardrock-Cafés eröffnet.