piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Eisenerz-Express

Manche Eisenbahnlinien sind auf Legenden gebaut, andere auf Sand. Der Eisenerz-Express ist die Lebensader im nördlichen Mauretanien. Er transportiert Eisenerz nach Nouadhibou – und bringt mit dem Rohstoff kosmopolitisches Flair in die Stadt

VON RICHARD FRAUNBERGER

Jeden Tag, so zwischen 14 und 16 Uhr, hält in der mauretanischen Hafenstadt Nouadhibou ein Zug. Er ist drei Kilometer lang, wird von drei Dieselloks gezogen und hat einen Passagierwagen. Auf keinem Fahrplan ist er verzeichnet, keine Durchsage kündigt ihn an. Erst wenn eine enorme Staubfahne hinter Dünen aufwirbelt, bringen sich die Wartenden in Position. Eine gemächliche Unruhe bricht dann am Wüstenbahnhof aus, und der Sand, der zuvor glatt wie ein Seidentuch auslag, ist nun mit Schuhabdrücken gespickt. Eile ist geboten. Zehn Minuten lang hat jeder Zeit, einen Platz im einzigen Passagierwagen zu finden oder in einen der 220 leeren Güterwaggons zu klettern. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung und schiebt sich durch einen Erdteil voller Sand.

Dabei könnte alles anders sein. Bestünde das nationale Straßennetz Mauretaniens aus mehr als zwei asphaltierten Überlandstraßen, man würde sich das Reisen mit dem Zug vermutlich sparen. Wo aber Eisenerz, Datteln und Fisch den Reichtum eines Landes definieren, das größtenteils unter Sand begraben liegt, da reist man in offenen Güterwaggons so selbstverständlich wie in den Untergrundbahnen der Metropolen dieser Welt. So gesehen, kann man die Eisenbahnlinie durchaus eine Lebensader Mauretaniens nennen. Sie sorgt für Leben an den Endstationen, und auf den 700 Kilometern durch die Wüste kommt das Leben zu ihr.

Bereits die Landesgrenze kündet davon, dass in der Islamischen Republik Mauretanien einiges anders ist als in den benachbarten Ländern. Hinter dem Zollhaus der Marokkaner endet abrupt die Straße. Dahinter klafft das Nichts, ein Meer von Steinen, Sand und Sträuchern. Man muss lange suchen, um den mauretanischen Grenzposten zu finden. Es ist, als verstecke sich das Land. Dabei hat im letzten Jahr der Minister für Handel und Tourismus Isselmou Ould Abdel Kader die Öffnung, gar den touristischen Ausbau des Landes proklamiert. Das dürfte schwer fallen. Trotz florierender Fischereiwirtschaft und einem Eisenerzvorkommen ist die ehemalige französische Kolonie bettelarm. Eine Bahnlinie, zwei Überlandstraßen und Myriaden von Sandpisten bilden die Infrastruktur. Chancen bestehen dennoch. Begünstigt durch die Schließung der Algerienpiste entwickelt sich das Land mehr und mehr zur Drehscheibe für Westafrika. Seit der Einführung neuer Visabestimmungen gibt es den Stempel in den Reisepass nun innerhalb weniger Stunden. Außerdem: Mauretanien hat Sand, viel Sand und eine Dünenlandschaft von monumentaler Schönheit.

Vielleicht ist es Isselmou Ould Abdel Kader zu verdanken, dass die Abfertigung in der Grenzhütte so reibungslos vonstatten geht. Neben versandeten Gleisen über Steine und Sträucher in die zweitgrößte Stadt eines Staates zu fahren, ist ein befremdliches Gefühl. Die Hafenstadt Nouadhibou, eingezäumt vom Atlantik und der Wüste, liegt südlich der Westsahara auf der Halbinsel Cap Blanc, einem Landstreifen, den sich Mauretanien und Marokko teilen. Sie ist keine Schönheit, ihr Reiz ist ihr kosmopolitischer Charakter.

Ein Sprachengewirr herrscht auf dem Zentralmarkt, als habe sich ganz Westafrika am Gemüsestand versammelt. Hassaniya, Bambara, Fula und Mandinka, und wenn man etwas wartet, kommen auch Vertreter der übrigen Welt am Stand vorbei und kaufen in russischer, koreanischer oder griechischer Sprache ein paar Kilo Tomaten und Kartoffeln ein. An Straßenecken offerieren Malier Armbanduhren, senegalesische Frauen stelzen in Stöckelschuhen durch den Sand. Nicht selten sieht man Jugendliche mit den Insignien New Yorker Gangs, windschnittige Sonnenbrillen und Wollmützen, in lässiger Pose mit einem Rekorder durch die staubigen Straßen schreiten. Dakar, Accra, Côte d’Ivoire. Das sind Namen der Stadtteile Nouadhibous. Es braucht Zeit, die geografische Lage mit diesen Bildern in Einklang zu bringen. Die vibrierende Stadt ist mit ihren offiziellen 90.000 Einwohnern das babylonische Sammelbecken Westafrikas. Und das hat Gründe.

Im Hafen ankert die internationale Fischereiflotte. Koreaner, Japaner, Europäer und Westafrikaner. Die Küstengewässer Mauretaniens zählen trotz zunehmender Überfischung zu den fischreichsten der Erde. Nouadhibou ist der wichtigste Hafen des Landes und das Zentrum der Fischindustrie. Hinter deren Anlagen liegen, weit entfernt, aber in der Vorstellung immer nah, die Kanarischen Inseln, Spanien, Europa, Ziele einer Sehnsucht. Und weil die einen sich ein besseres Einkommen in der Stadt und die anderen sich ein besseres Leben jenseits des Kontinents erhoffen, reisen Menschen über mehrere Landesgrenzen bis nach Nouadhibou. In der Hafenstadt hat man sich längst eingerichtet. Es gibt Reisepassverkäufer, Geldwechsler und Kaschemmen, Kirchen und Moscheen, Schulen, Internetcafés und in Hinterhöfen selbst gebastelte Destillieranlagen. Die Stadt ist eine Börse mit afrikanischem Hype, in der Jobs, Gerüchte und Geld gehandelt werden, Ziegen meckern und Rap auf den Straßen ertönt, in der Menschen träumen und Menschen sich auf eine Art ein „Ça va“ zuwerfen, als sei der Ort von einer einzigen großen Familie bewohnt. Versinkt die Sonne hinter den Dünen, geht Afrika in Deckung. Der Kontinent bleibt im Dunkeln, die Städte sind kaum beleuchtet.

Nachts sitzt man in einem der Restaurants oder bei Mama Africa und isst Fisch. Die Mama heißt Ella und versorgt seit fünfzehn Jahren ihre ghanaischen Landsleute und alle anderen mit internationaler Küche. In Ellas Einzimmerrestaurant sitzt man auf Plastikstühlen und kann bei Spaghetti stundenlang TV Cinq schauen. Eine Dose Bier oder ein Glas selbst gebrannten Schnaps zu trinken, das allerdings müssen die Gäste diskret in der hintersten Ecke erledigen. Mauretanien ist eine islamische Republik, Alkoholkonsum ist untersagt. Deshalb boomen Schnellrestaurants, die Rôtisseries, in denen stattliche Frauen nie fragen, was man essen, sondern was man trinken will.

Es ist der Eisenerzzug, dem Nouadhibou sein rasantes Wachstum zu verdanken hat. Nahezu jeder kommt mit ihm in die Hafenstadt, fast alles wird auf ihm transportiert. Die Eisenbahnlinie ist die billigste, wichtigste und mit 44 Stundenkilometern zugleich die schnellste Verbindung in einer Gegend, in der sich die Sanddünen der Sahara wie Barrikaden um die Stadt legen. 20.000 Tonnen Eisenerz werden bei jeder Fahrt aus den Minen Zouérates an die Atlantikküste, zu Nouadhibous Verladebahnhof Cansado, transportiert.

Viermal hält der Zug auf der 700 Kilometer langen Strecke an, um Wasser zu tanken und die im Sand stehenden Fahrgäste mitzunehmen. Wüstentaxis und Eselkarren aus den umliegenden Dörfern parken an den Gleisen, und alles wartet darauf, dass der Zug nach drei Kilometer Bremsweg zum Stehen kommt. Fahrgäste rennen dann auf den einzigen Personenwagen zu, und die Händler verladen mit routinierter Schnelligkeit ihre Waren auf die eisenerzbeladenen Güterwaggons. Das hat den Nachteil, tagsüber dem heißen und nachts dem kalten Fahrtwind ausgesetzt zu sein und schwarz wie ein Kaminfeger anzukommen. Aber das Fahren in den offenen Güterwaggons erspart den Erwerb einer Zugfahrkarte und garantiert eine überwältigende Aussicht auf die Wüste.

Snim, die staatliche Betreibergesellschaft der Minen und der Eisenbahn, ist der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes. Sie beschäftigt 50.000 Menschen an den Endstationen Zouérates und Nouadhibous und eine Hundertschaft einsamer Arbeiter entlang der Bahnlinie. Antiversandungstrupps schaufeln und schieben an der buchstäblich auf Sand gebauten Linie die über die Gleise wachsenden Sandbuchten in die Wüste zurück, Schwellen werden fixiert, Instandhaltungsstationen gepflegt, Arbeiter mit Lebensmitteln und Wasser versorgt. Dreimal täglich rollt der Eisenerz-Express beladen aus der Wüste an die Küste und dreimal leer in die Wüste zurück. Wenn Ella, die Mama Afrikas, Besorgungen in der Hauptstadt Nouakchott erledigen will, nimmt sie den Zug zwischen 14 und 16 Uhr, steigt gegen 3 Uhr früh am Wüstendorf Choum aus, steigt in ein Taxi um und ist vielleicht abends am Ziel.

Zwei Drittel des Landes liegen unter Sand begraben, eine Fläche doppelt so groß wie die Bundesrepublik. Der Vormarsch der Sanddünen ist rekordverdächtig. Sechs Kilometer pro Jahr wandern sie vorwärts und begraben alles, was sich ihnen in den Weg stellt: Straßen, Häuser, ganze Dörfer. Trotz katastrophaler Folgen für das Land ist es schwer, die Schönheit dieser sandigen Choreografie zu übersehen. „Gott hat die Wüste geschaffen, damit die Menschen ihre Seele entdecken“, sagen die Tuareg.

In zwei Jahren wird alles ein Ende haben. Eine asphaltierte Straße wird Nouadhibou entlang der Küste mit der Hauptstadt Nouakchott verbinden. Der Eisenerz-Express wird nur noch schwarzen Rohstoff an die Küste bringen, die Taxistände und Haltestationen entlang der Bahnlinie werden allmählich in Bedeutungslosigkeit versinken. Gefragt, was er dann zu tun gedenke, zuckt der Taxifahrer mit den Schultern und sagt: „Pas de problème. Ich werde in Nouadhibou Taxi fahren.“ Nur wer wird ihn anschieben, um in die Hafenstadt zu gelangen?