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Archiv-Artikel

Die Besten in die Vorschule!

Eliteunis? Wenigstens hat nun die Debatte über den Wert von Humankapital begonnen. Aber noch immer herrscht die misanthropische Formel vom „Qualifikationsbedarf“

Die Devise stammt von Lichtenberg:„Jedermann ist wenigstens des Jahres einmal ein Genie“ In den besten Ländern lautet die Botschaft: „Kommt her! Ihr seid gut. Bei uns werdet ihr noch besser“ US-Autoren fordern „Wissensenergie“ als Leitbild – Konsequenz ihrer Wertschätzung der Vorschule

Auf ihrer ersten Konferenz beschlossen die deutschen Kultusminister 1948, das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen. Das Relikt aus vordemokratischer Zeit sei am Nazismus mitschuldig. Ein einheitlicher achtjähriger Unterricht für alle und sich anschließende Aufstiegsmöglichkeiten für viele sollte die deutsche Ständeschule ablösen.

Ein Jahr später kippten die Kultusminister ihren Beschluss. Nun meinten sie, in der Weimarer Republik seien zu viele „Ungeeignete“ durch höhere Schulen und Hochschulen geschleust worden. Das habe zu einem „Bildungsproletariat“ geführt. Goebbels und Konsorten hätten die rechte Revolution angezettelt, weil für sie kein Platz in der Elite von Staat, Wirtschaft und Universitäten war. Tatsächlich gehörte seitdem die Furcht vor den Überzähligen aus Gymnasium und Universität über Jahrzehnte zu den Obsessionen der Bildungspolitiker – auch wenn die Angst vor dem revolutionären Potenzial der promovierten deutschen Taxifahrer heute grotesk erscheint.

Der Pisa-Studie und den Bilanzen der Globalisierung sei gedankt: Nach dem Erwachen aus ihrer bildungspolitischen Splendid Isolation reiben sich die Deutschen nun die Augen. Sie lesen, dass in Finnland inzwischen 71 Prozent jedes Jahrgangs studieren. Und am Maß ist nicht zu rütteln: ein wenigstens vierjähriges Studium. Auch Neuseeland hat die Marke von 70 Prozent überschritten, Australien und Schweden haben sie fast erreicht. Diese Länder stehen auf vielen Länderindizes zur Innovation ganz oben. Wenn Deutsche angesichts solcher Bildungsblütenträume fragen, ob dort eigentlich noch das letzte Blumenmädchen studieren muss, könnten sie lernen, was Bildung ist. Es ist in vielen Gesellschaften nicht der Rede wert, wenn eine Professorin mit einem Handwerker verheirat ist. Wer jemand ist, steht etwa in Finnland auf einem anderen Blatt als die Antwort auf die Frage, welchen Beruf jemand ausübt.

Wo wir schon in Finnland sind: Hier ist der Respekt vor Kindern die erste Maxime aller Pädagogik. Das Gebot, Kinder nicht zu beschämen, ist im Ergebnis leistungssteigernd, auch wenn man darauf nicht spekuliert. Gero Lehnhardt vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat verglichen, wie in der angloamerikanischen und der skandinavischen Tradition über Bildung gedacht wird und wie demgegenüber in Deutschland deren Wahrnehmung formatiert ist. Bei uns herrscht das Muster Qualifikationsbedarf – aller Bildungslyrik zum Trotz. In den Ländern mit demokratischerer Tradition hingegen dominiert Humankapital.

Der entscheidende Unterschied ist: Wer vom Qualifikationsbedarf spricht, glaubt, die Zukunft vorhersagen zu können. Wer vom Humankapital spricht, kann die Zukunft offen lassen. Der Objektivismus des Qualifikationsbedarfs ist mit Misstrauen gegenüber der nächsten Generation verbunden. Die Idee des Humankapitals zielt entgegen dem ersten Anschein nicht auf Verwertung, sondern auf Wertschätzung. In Neuseeland oder Finnland glauben Bildungspolitiker, Schüler und Studenten würden schon was aus sich machen: Ihr seid ganz okay, kultiviert nur eure Talente, damit sollt ihr schließlich später wuchern. Dass sich diese Mentalität in einer Wissensgesellschaft auszahlt, muss kaum noch betont werden.

Wertschätzung und Wertschöpfung werden sich immer stärker bedingen. Das war in der klassischen Industriegesellschaft nicht so. Wem schon in der Schule gesagt wurde, dass aus ihm nichts werde, musste sich mit lebenslanger Maloche gegen diesen Fluch wehren. Die verachtende und ständig mit Ausschluss drohende negative Initiation war für eine Industriegesellschaft ganz kompatibel. Wenn nun Bildung, Forschung und Innovation an die Spitze der politischen Agenda gesetzt werden, dann ist das für eine nachindustrielle Gesellschaft erst recht erforderlich, ja überfällig. Aber worauf wird es tatsächlich ankommen?

Eines haben eine amerikanische Spitzenuniversität, ein englisches Internat und die finnische Gemeinschaftsschule ohne Leistungsdifferenzierung gemeinsam. Es ist ihre unausgesprochene Einladung: „Kommt her! Ihr seit gut. Bei uns werdet ihr noch besser.“ Niedrige Abbrecherquoten beweisen: Wer drin ist, muss um seine Zugehörigkeit nicht bangen. Dann können sich die Schülerinnen und Schüler der Individualisierung zuwenden und mit dem großen Göttinger Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg fordern: „Jedermann ist wenigstens des Jahres einmal ein Genie.“ Genau daran aber wird das anhaltende deutsche Elend deutlich: Statt Anerkennung des Genies eines jeden die fortgesetzte Aberkennung und im selektiven System die immer ungeklärte Frage: Gehörst du wirklich dazu?

Die Zukunftsfähigkeit eines Systems lässt sich daran erkennen, wie der Satz „Auf euch haben wir gewartet!“ betont wird. In Deutschland erklingt die misanthropische deutsche Melodie: Auf dich haben wir gerade noch gewartet. In Neuseeland hingegen wird jeder Fünfjährige an seinem Geburtstag eingeschult und sein Schulanfang wie eine zweite Geburt gefeiert. Was für eine Initiation! Nur in einem einzigen Land werden Kinder erst einmal auf ihre Schulreife getestet, neuerdings auch auf ihre Sprachfähigkeit, bevor sie reindürfen – in Deutschland.

Man kann die Vorstellungen von Bildung nicht vom allgemeinen Selbstbild einer Gesellschaft trennen – Bildung ist eine Spiegelung dieses Selbstbildes. Noch herrscht Qualifikationsbedarf in Deutschland. Die Entdeckung des Humankapitals, also des subjektiven Faktors, hat noch gar nicht richtig begonnen. Wer es damit ernst meint, braucht die besten denkbaren Schulen, exzellente Hochschulen und vor allem die allerbesten Kindergärten.

Während in Deutschland nun ein paar Vorbilder aus Übersee kopiert werden soll, wird anderswo an neuen Prototypen gearbeitet. Finnland ist ein Beispiel, wie gute Schulen am allermeisten von ihren schwachen Schülern lernen und wie sehr alle davon profitieren. In Schweden wurde die Lehrerausbildung völlig umgebaut. Alle Lehrer, vom Erzieher an der Vorschule bis zum Fachlehrer, werden als „Lernwissenschaftler“ an Universitäten gemeinsam ausgebildet – und die besten sollen in die Vorschule!

Die Autoren einer Studie am Massachusetts Institute of Technology in Boston schlagen bereits ein neues Leitbild vor: „Willensenergie“. Sie begründen es damit, dass das Wissen, das die Universität vermittelt, immer unwichtiger wird, während das Wissen, das relevant ist, immer weniger an Universitäten vermittelt wird. Damit ziehen sie aus der Wertschätzung der Vorschule bildungspolitische Konsequenzen – und sind uns noch weiter voraus. REINHARD KAHL

Der Autor lebt als bildungspolitischer Publizist, Regisseur und Filmproduzent in Hamburg. Demnächst erscheint eine umfangreiche Filmdokumentation „Treibhäuser der Zukunft“ über deutsche Schulen, die gelingen