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Archiv-Artikel

Blaue Hoffnung Meer

Im Rahmen ihrer Festivitäten zum Zehnjährigen zeigen die italophilen Zeise-Kinos in einer Preview Lampedusa. Der Film überwölbt die soziale Erstickung der Frau mit einer ästhetischen Utopie

von JAKOB HESLER

Im Untertitel nennt der deutsche Verleih Lampedusa (2002), den zweiten Spielfilm des Italieners Emanuele Crialese, „eine magische Geschichte“. Und dieser Wink mit dem Zaunpfahl geht in die richtige Richtung: Zwar spielt Lampedusa (Kritikerpreis Cannes 2002) auf der gleichnamigen Fischerinsel südlich von Sizilien, und damit durchaus in der wirklichen Jetztzeit. Aber zugleich stilisiert Crialese die Geschichte von Grazia, einer jungen Mutter, die an den Zwängen ihrer Umwelt zerbricht, ins Wunderbare und Überzeitliche.

Er taucht sie ins gleißend weiße afrikanische Licht des südlichsten Italiens, er schwelgt in den kräftigen Farben der Erde, des Meers und der Fischerboote, er zeigt eine Insel ohne Tourismus und eine Dorfgemeinschaft ohne Fernsehen. Die Bauruinen, zwischen denen Jungen mit nacktem Oberkörper in der Anfangssequenz grausame Spiele spielen, wirken wie mythische Überbleibsel aus der Zeit der griechischen Besiedlung, wie geometrische graue Pendants zu den Tempeln von Agrigent. Der visuelle Zauber ist dem Film dabei jedoch kein Vehikel zur Flucht aus der sozialen Wirklichkeit. Vielmehr macht er damit gerade deutlich, wie sich diese das Individuum unterwirft.

Grazia (Valeria Golino) ist spontan, lebendig, extravagant bis exzentrisch. Deshalb geht sie an den patriarchalischen Sitten des Mezzogiorno kaputt. Hier verbieten 10-jährige Brüder der volljährigen Schwester den Umgang mit Männern und kommandieren ihre Mutter herum. Einmal badet Grazia nackt in einer verlassenen Bucht, ihr Ehemann Pietro erwischt sie vom Fischerboot aus dabei: fast eine Todsünde. Sie reagiert auf die Einengung mit Anfällen, mit irren Aktionen. Sie setzt das Haus unter Wasser und „wäscht alles“. Eine Frau unter Einfluss? Für die anderen: eine Verrückte; spätestens, als sie herrenlose Hunde aus dem Zwinger lässt. Das heulende Rudel läuft durch das Dorf und wird von den männlichen Bewohnern – jeder besitzt eine Flinte – zusammengeschossen. Ein wahnwitziges Massaker, die Straße färbt sich rot.

Grazia solle nach Mailand in eine Klinik, sagt Pietro jetzt zu ihr, gedrängt von den anderen. Er ist eigentlich zwar liebend und sensibel, aber seiner männlichen Zwangsrolle kann er sich dennoch nicht entziehen. Dass hinter der Unterdrückung guter Wille steht, verleiht der Geschichte tragische Züge. Grazia flieht. In ihrem Höhlenversteck kann sie kaum überleben ohne männliche Hilfe: eine bezeichnende Ironie. Ihr älterer Sohn Pasquale, zu dem sie ein Verhältnis beinahe erotischer Zärtlichkeit hat, versorgt sie heimlich mit Lebensmitteln. Diese stillschweigende Auflehnung des 14-Jährigen gegen den Vater ist der Schritt, mit dem der ernste Junge zum Mann wird. Spielräume für weibliches Handeln gibt es dagegen nicht. Das könnte man dem Film vorwerfen und die Darstellung von Grazia als stereotyp irrational oder hysterisch kritisieren. Aber weil die sizilianische Wirklichkeit selber stereotyp patriarchalisch ist, liegt darin eher eine Aufrichtigkeit, mit der sich Lampedusa in die neorealistische Tradition einordnet.

Natürlich liegt in der Bildsprache zugleich ein deutlicher Schimmer der Hoffnung. Metaphorisch konkretisiert sich das in den vielen Bildern vom Meer. Sie kulminieren in der Schlussszene, in der sich das Dorf nachts zu einem Feuer-Fest am Strand trifft. Eine Art Wunder geschieht, und Pietro geht ihm bekleidet entgegen ins Wasser. Alle folgen ihm. Man sieht die vielen beschuhten Füße aus der Fischperspektive sachte im Wasser rudern, im Schein der Scheiterhaufen, in surrealer Harmonie. Crialeses magischer Realismus ist vielleicht streitbar. Doch ergreifendere Bilder von einer versöhnten Gesellschaft gab es bis heute nicht.

heute, 20 Uhr; anschließend im Festprogramm: Die Kurzfilmagentur Hamburg präsentiert den Bundesstart von Der Vorführeffekt plus Beifilmprogramm: 22.30 Uhr, Zeise