Gespür für Pausen

Menschen sind wie Jahreszeiten: Die Musik der amerikanischen Band Sophia oszilliert zwischen göttlicher Wucht und pastoraler Trauer

VON ARNO FRANK

Eine kleine Narbe erzählt manchmal spannendere Geschichten als ein Spielfilm. Die Narbe im Gesicht von Robin Proper-Sheppard ist frisch und lang, sie zieht sich vom rechten Mundwinkel bis hinter das Ohr. Er erzählt von diesem gepiercten, kahl rasierten, betrunkenen Skinhead, der ihn in einer Bar in Brüssel anrempelte. Es wurden mit schwerer Zunge ein paar Worte gewechselt, in deren Verlauf Proper-Sheppard den Fehler machte, seinen Beruf und den Namen seiner alten Band zu erwähnen: Musiker, The God Machine. „Und da ist dieser Typ förmlich explodiert!“

The God Machine war ein obskures Proto-Emo-Hardcore-Projekt, dessen Veröffentlichungen heute nur noch zu absurden Preisen den Besitzer wechseln. Wenn überhaupt. Anfang der Neunzigerjahre tourte die Band mit Geistesverwandten wie The Swans oder Nick Cave und wurde in einem Atemzug mit Kyuss oder Jane’s Addiction genannt.

Was hoffnungsvoll begann, scheiterte bald an Kommerz und Tragödie: Erst wurden God Machine von der Plattenfirma gedroppt (weil sie sich geweigert hatten, im Vorprogramm von Soundgarden aufzutreten), dann starb Proper-Sheppards bester Freund und Bandkollege Jimmy Fernandez an einem Gehirntumor. „One Last Laugh In A Place Of Dying“ hieß die letzte Platte, und Proper-Sheppard stand mit nackten Füßen in einem finanziellen, künstlerischen und seelischen Scherbenhaufen.

„Gitarre spielte ich nach diesem Schock eigentlich nur noch für mich selbst, meistens morbides leises Zeug.“ Irgendwann hatte sich dann so viel morbides leises Zeug angesammelt, dass er es veröffentlichte: „Fixed Water“ (1996) war die erste, „The Infinite Circle“ (1998) die zweite Platte eines neuen Projektes – Sophia: „Mir gefiel, dass uns die Leute wegen des Namens anfangs für eine Girlgroup hielten.“

„People Are Like Seasons“ (City Slang) klingt nun wie ein versöhnlicher Zirkelschluss, weil es die Wucht von God Machine der pastoralen Trauer von Sophia dienstbar macht. Melodiöse Pianoläufe, die geduldig Fahrt aufnehmen und sich zu mächtigen Gebirgen auftürmen. Schmeichelnde Streicher, die in einer Glut rasender Gitarren dahinschmelzen. Stürmischer Garagenrock, der atemlos auf einem einzigen repetitiven Bassriff dahinreitet. Akustische Gitarren mit verhuschten kleinen Akkorden. Sinn für Pausen. Gespür für Statik und Raum. Eine expressive Bühne für die mit heller Stimme vorgetragenen dunklen Texte, über die Wunden zwischenmenschlicher Zerwürfnisse und das Wunder ihrer Heilung.

Apropos Narben. Wie ging denn nun die Sache mit dem Skinhead weiter? „Oh, der Typ flippte völlig aus, riss sich das T-Shirt vom Leib und zeigte mir seinen Rücken, auf dem eine einzige Textzeile tätowiert war: Why do all the things have to change, just when they meant so much?“

Der Satz ist aus dem Song „It’s All Over“, den Robin Proper-Sheppard nach dem Tod von Jimmy Fernandez geschrieben hat. Und die Narbe im Gesicht? Ist eine andere Geschichte.