„Sie wittern die Konjunktur“

Künstler und Intellektuelle sind für den Krieg – oder dagegen. Das Modell für den gemeinsamen Auftritt in Form eines offenen Briefes, Manifestes oder Appells lässt sich bis an den Beginn der literarischen Moderne zurückverfolgen. Im September 1914 erlangte das „Manifest der 93“ traurige Berühmtheit

von OLIVER RUF

„Eines ist gewiss“, sprach Benjamin, „Intelligenz ist Dilettantismus. Intelligenz blufft uns nicht mehr.“ – „Du hast Recht“, sagt Jopp, „Intelligenz ist verdächtig: Scharfsinn verblühter Reklamechefs.“ (Hugo Ball)

Es geht um Krieg und Frieden. Also meldet die kulturelle Elite sich zu Wort – mit unterschiedlichen Positionen, aber in immer gleicher Gestalt. Ob in Deutschland Günter Grass, Walter Jens oder Otto Sander einen gemeinsamen Appell zum Widerstand gegen eine mögliche Irakintervention unterstützen oder amerikanische Intellektuelle wie Francis Fukuyama, Samuel P. Huntington oder Michael Walzer einen „gerechten Krieg“ befürworten: Sie unterzeichnen ihre offenen Briefe im Kollektiv.

Die Form des gemeinschaftlichen Aufrufs von Kulturschaffenden und Intellektuellen hat eine Tradition, die sich an den Anfang der literarischen Moderne zurückverfolgen lässt. Filippo Tommaso Marinetti begründete 1909 den italienischen Futurismus mit einer Abkehr von der herkömmlichen Ästhetik in der Kunst. In seinem „Manifest des Futurismus“, dem sich fünf Mailänder Maler anschlossen, feierte er die Schönheit des technischen Fortschritts. Diese und andere Programmschriften der modernen Kunst entliehen sich Sprachstil und Format von politisch-revolutionären Vorbildern, allen voran dem „Manifest der Kommunistischen Partei“. Neu war ihnen allerdings der öffentliche Auftritt einer künstlerischen Gemeinschaft.

Das Modell machte Schule – auch außerhalb der im engeren Sinne künstlerischen Kreise. Im September 1914 wandten sich Wissenschaftler in Tübingen an die Universitäten des Auslandes und empörten sich über den „Feldzug systematischer Lüge und Verleumdung“, den sie mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges gegenüber dem „Deutschen Volk“ wahrnehmen wollten.

An die Kulturwelt

Einigen Schriftstellern, Malern und Intellektuellen ging das noch nicht weit genug: Kurz darauf erschien unter dem Titel „An die Kulturwelt“ ein Text, der als „Manifest der 93“ traurige Berühmtheit erlangen sollte: „Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“

Der „Aufruf an die Kulturwelt“ war ein Bekenntnis zu Krieg und Rassismus. Mehr als 90 Schriftsteller, Politiker und andere namhafte Figuren des deutschen Kulturlebens unterzeichneten das Schreiben, das in allen großen Zeitungen des Deutschen Reichs gedruckt und an Redaktionen im Ausland versandt wurde: Die mediale Aufmerksamkeit war von Anfang an entscheidend.

Am Ende des Weltkrieges erschien ein anderer öffentlicher Aufruf: „Es ist an der Menschheit in einem ungeheuren Maße gesündigt worden. Die zivilisierte Welt wurde zum Kriegslager und zum Schlachtfelde. Es ist endlich Zeit, dass eine große Welle der Liebe die verheerende Woge des Hasses ablöse“, heißt es darin. Das Dokument unterzeichneten wiederum eine Reihe Intellektueller und Kulturschaffender: der Lustspielautor Ludwig Anton Fulda, Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, der Politiker Georg Reicke und der Dramatiker Hermann Sudermann. Die Namen waren der interessierten Öffentlichkeit wohlbekannt: Sie hatten schon vier Jahre zuvor unter dem inhaltlich doch eher gegensätzlich ausgerichteten „Manifest der 93“ gestanden.

„Das darf nicht sein! Feierlich erheben wir Protest. Zum zweiten Male soll das betrogene deutsche Volk von seinen sogenannten Dichtern und Denkern, mit Gerhart Hauptmann an der Spitze, genasführt werden“, wetterte Hugo Ball daraufhin in der Glosse „Die Fingerfertigen“ in der Freien Zeitung. Seit 1917 verfasste der Schriftsteller Beiträge für das Blatt, das sich zu einem bedeutenden Forum emigrierter Kriegsgegner entwickelte. „Kündige ihnen endlich das Vertrauen auf, deutsches Volk“, forderte Ball. „Sie wittern die Konjunktur und wollen nun in Menschlichkeit machen, wie sie vier Jahre lang in Militarismus und Völkerhass gemacht haben.“

Ball hatte Erfahrung mit kollektiven Appellen, unter anderem weil er zu den Unterzeichnern des „Dadaistischen Manifests“ gehörte. Auch der patriotische Überschwang in den ersten Kriegsjahren war Ball nur allzu gut bekannt. Er hatte sich 1914 in München freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, war jedoch aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt worden. Sehr schnell hatte er sich aber von seiner jugendlichen Begeisterung für die Schützengräben distanziert – und verurteilte umso entschiedener die opportunistischen Äußerungen in Deutschland.

Schuldfrage

Das unrühmliche Verhalten der deutschen Dichter und Denker beschäftigte Ball im schweizerischen Exil weiter. Er begann, sich mit der Mentalitätsgeschichte der deutschen Intelligenz zu beschäftigen, und verfolgte ihre Linien über die Heroen des Protestantismus und Preußentums – Luther, Hegel und Bismarck – bis in die Gegenwart.

Seine Überlegungen mündeten in der Streitschrift „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“: In diesem Buch stellte Ball die „Schuldfrage“ bezüglich des Weltkriegs grundsätzlich neu: Nicht allein die Regierungen der Mittelmächte hatten in seinen Augen maßgeblich Anteil am Kriegsausbruch gehabt, sondern auch die „Klassen und Kasten, die diese Regierungen möglich machten und stützten“ – sprich: die deutsche Intelligenz.

Hugo Ball rüttelte damit an einer der ideologischen Säulen des neuen Deutschland. Die Intellektuellen wurden als elitäre Großgruppe und geistige Elite vom Bürgertum der nachwilhelminischen Gesellschaft geradezu idealisiert: Geistiges Repräsentantentum gehörte zu den Voraussetzungen der Weimarer Kultur. Seine mahnende Worte aus dem Abseits der neutralen Schweiz verhallten ungehört. Im Angesicht von publizistischer Isolation und Ohnmacht verfolgte Hugo Ball dennoch hartnäckig seine Kritik. Er wandte sich nun der Rolle des einzelnen Kulturschaffenden und Intellektuellen innerhalb der Gesellschaft zu.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren auch die letzten Überreste des romantischen Geniekults in Vergessenheit geraten. „Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe hören“, schrieb er in der katholischen Wochenzeitung Hochland: „Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit.“

Für Ball stand die „hohe Einschätzung der Kunst“ im „schroffsten Gegensatze“ zur „Geltung der Person des Künstlers“. Die Kulturschaffenden hatten ein ernsthaftes Problem, ihr gesellschaftliches Ansehen verblasste. In dieser Situation bot die Stilisierung der Intelligenz zur weltanschaulichen Großgruppe in der Weimarer Republik die verlockende Gelegenheit, sich dem Glanz dieser Gruppe anzuschließen.

Viele Künstler hegten daher den Wunsch, als Intellektuelle dazuzugehören, sich dem Aushängeschild „Intelligenz“ zuzuordnen und damit Reklame für sich selbst zu machen: Am Einfachsten funktionierte dies dadurch, dass man den Schulturschluss in gemeinsam unterzeichneten Appellen und Pamphleten suchte. „Die vertriebene Anpassung sucht in den seltsamsten und zufälligsten Bindungen nach Ersatz“, schrieb Ball, der den Hochland-Aufsatz programmatisch „Der Künstler und die Zeitkrankheit“ nannte. Er sah in dem auffälligen Verhalten der Kulturschaffenden die Neurose einer ganzen Epoche.

Ball hatte die grundsätzlichen Funktionsweisen eines neuen Mediums analysiert: Im Laufe des 20. Jahrhundert wurden Manifest und anderen Formen der gemeinschaftlichen Meinungsäußerung zur Plattform, auf der nicht nur Intellektuelle, sondern auch Künstler und andere Kulturschaffende mit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit rechnen konnten.

Auch heute, knapp 90 Jahre nach dem Erscheinen des „Manifestes der 93“ und seiner überraschenden Revision, organisiert sich der gemeinschaftliche Protest der kulturellen Elite noch immer nach dem gleichen Muster: Aus dem stetig dichter werdenden medialen Stimmengewirr tritt man dann am deutlichsten hervor, wenn man sich zu einem offenen Brief oder einem gemeinsamen Appell entschließt.

Es geht um Krieg und Frieden. Aber es geht auch darum, überhaupt gehört zu werden.