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Archiv-Artikel

Suite 3508

Fünf Wochen lang konnten sich 50 Berliner im obersten Stock des Forum Hotels einquartieren. Maximal vier auf einmal. Die Grenzerfahrungen des heimischen Reisens machen das Event zu Big Brother im Kunstformat

von WALTRAUD SCHWAB

Keine Musik. Die Suite, um die es geht, liegt im 35. Stock des Forum Hotels am Alexanderplatz. Mehr als 250 Euro die Nacht bezahlen Leute mit Geld, wenn sie hier übernachten. Nicht größer als eine Ein-Zimmer-Hinterhofwohnung in Neukölln ist das Etablissement. Dort wäre es für diesen Preis einen ganzen Monat zu haben. Bett, Sofa, Sessel, Schrank, Fernseher. Der Ausblick soll den Preis rechtfertigen. Er ist teuer, exklusiv. Aufgeblättert wie ein Buch liegt Berlin den Gästen vor Augen. Da unten. Ganz klein. Hingeworfen sind Häuser, Straßen, Türme, S-Bahn-Gleise, sind Palast der Republik, Dom und das, was sich als Siegessäule im Dunst ausmachen lässt. Von hier aus ist die Stadt nicht mehr Alltag, sie ist die Summe aller Möglichkeiten.

Fünf Wochen lang haben 50 Berliner und Berlinerinnen Gelegenheit, immer wieder in der Suite 3508 einzuchecken. Maximal vier von ihnen gleichzeitig. Bis zu drei Nächte am Stück können sie bleiben. Es ist die Zeit, die ein Mensch mindestens braucht, um die 16-bändige „Geschichte der Empfindlichkeit“ von Hubert Fichte zu lesen. Die Bücher liegen im Zimmer aus.

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„Jetzt bin ich richtig angereist zum gebuchten Urlaub. Die Überlegung: Welche Reisetasche?, wurde fast zum Problem. Der obligatorische Rollkoffer: eigentlich Standard. Aber wie transportiert man einen Rollenkoffer auf dem Fahrrad durch die Stadt?“ (Gästebucheintrag vom 22. Februar)

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Natürlich handelt es sich bei dieser Zeit-Raum-Konstellation in Berlin um eine Kunstaktion. Eine, die Wahrnehmung überprüfen will. Wo beginnt Realität, wo Fiktion? Saskia Draxler und Jan van Delft, Konzept- und Eventkünstlerduo, haben sie sich ausgedacht. Der Hauptstadtkulturfonds zahlt. Die Fragen, die dem Konzept zu Grunde liegen: Worum geht es beim Reisen wirklich? Darum, dort gewesen zu sein? Oder darum, sich von Unbekannten berühren zu lassen? Was liegt von daher näher, als jemanden auf Reisen zu schicken am heimischen Ort. „Berlin-Touropa“ heißt das neuartige Touristikunternehmen.

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„Bin heute zum ersten Mal hier. Schade nur, dass ich Höhenangst habe.“ (27. Februar)

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Erwartungsvoll betritt die Fremde die Suite. Ausruhen, sich dem Unbekannten aussetzen, und sei es der Lektüre. „Hotel Garni“, heißt der erste Band von Hubert Fichtes Epos. Ob lesen möglich ist, steht dahin. Es könnte schon jemand im Zimmer sein. Begegnungen auf Reisen sind dem Zufall unterworfen.

Beim Eintreten wirkt das Zimmer leer. Keine Schuhe, keine Tasche, kein Geruch eines anderen. Erleichterung, denn dort, wo ein Bett steht, ist die Verführung groß, sich gehen zu lassen. Die teure Aussicht aus den Fenstern löst sich im Gegenlicht auf. Hier ist Südseite: Das Panorama überblendet.

Auf dem Schreibtisch liegt das Gästebuch. „Fern gesehen habe ich, statt Fichte zu lesen, was erfreulicher gewesen wäre“, schreibt einer am 7. Februar. Ein anderer: „Von links das Rauschen des Verkehrs, von rechts das der Badezimmerbelüftung.“ Am Ende wird das Gästebuch der Katalog dieser Kunstaktion sein. Es soll beweisen, dass die Reisenden wirklich da waren.

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„Könnte es sein, dass wir alle vor 15 Jahren eine viel bessere Handschrift hatten?“ (8. Februar)

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Vor fünf Tagen hat die Tour der Berliner in das Hotelzimmer am Alexanderplatz begonnen. Der Letzte, der eine Spur hinterlassen hat, gibt kund, dass er überall, wo er hinkommt, zuallererst baden muss. Beim Lesen ist plötzlich Wasserplätschern zu hören. Er ist da. Er kommt angezogen aus dem Bad. In seiner Hand eine Kamera. „Haben Sie sich jetzt beim Baden gefilmt?“ Er nickt. „Aber nichts Exhibitionistisches.“

Bereits im ersten Moment beginnt die Entfremdung. Robert heißt der Mann in der Badezimmertür. „Auch eine Reisende?“, fragt er. „Ich bin gekommen, um ‚Hotel Garni‘ zu lesen“, antworte ich. „Wer ist dieser Fichte überhaupt?“, will er wissen. „Ein Weltreisender, ein Ethnograf, Denker, Sammler.“ Danach kommen jene Fragen, die sich zwei Leuten stellen, die durch freien Willen im gleichen Raum sind, einem Hotelzimmer im 35. Stock mit Blick über den Alexanderplatz.

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„Worüber reden Menschen, wenn sie sich nicht kennen? Wenn sie sich kennen lernen wollen? Über Banales? Über Nichts? Über Beruf? Über Kunst? Alles überflüssige Themen. Wir sind jetzt vier Dramaturgen im Raum. Nein, drei Dramaturgen und ein Theaterwissenschaftler, der mal Hospitanz gemacht hat …“ (23. Februar)

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Robert kommt aus Friedrichshain. Er genieße es, dass hier ein Bad ist. Zu Hause in seiner Ofenheizungswohnung gebe es keins. Er hätte bei der Reise in die Fremde in Berlin mitgemacht, weil er nun Zeit habe. Grafiker im Zeitungsgewerbe sei er, auch Fotograf. Seit die großen Zeitungen ihre Berliner Seiten eingestellt haben, ist er arbeitslos. Er erzählt das mit den großen Zeitungen und den Berliner Seiten, um für Augenblicke noch einmal die Bewunderung zu genießen, die ihm zuteil wurde, als es sie noch gab.

Das Hotelzimmer ist mehr als ein Abteil in einem Zug, mehr als eine Hotellobby. Es ist ein falsches Zuhause. Es ist Big Brother in Echtzeit. Was tun, wenn die Fremdheit zwischen den Fremden bleibt? Gehen? Kommen? Einchecken ist jederzeit wieder möglich, sofern keine vier Reisenden in der Suite sind.

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„ ‚Sie haben den Fehler all derer, die nie gereist sind: Sie können sich nicht in die Person eines anderen versetzen.‘ Marquis de Sade, zitiert nach Hubert Fichte, Homosexualität und Literatur, Seite 33, abgeschrieben von Nadja.“ (10. Februar)

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Beim nächsten Versuch, Fichte zu lesen, scheint das Zimmer unbewohnt. Eine Täuschung. Gerade auf der Toilette, knallt die Tür. Frank kommt herein. Er ist der Platzhirsch. Er will hier übernachten. Es ist 21 Uhr. Nun muss auf Begegnung gemacht werden. „Was machst du?“ „Woher kommst du?“ „Warum bist du hier dabei?“ – Mehr gibt es nicht zu sagen.

Frank ist die Reise angetreten, „wegen dem Luxus“. Die Wohnung sei kalt. Auch bei ihm ist Ofenheizung. Der Mitbewohner sei langweilig. Er will oft kommen. „Ist ja ganz preiswert so.“ 50 Euro kostet ihn das Mitmachen die ganzen fünf Wochen. „Dazu das Frühstück morgens.“ Fichte interessiert ihn nicht: „Who the fuck is Fichte?“ Er wirft sich in den Sessel. Fernseher an. Bombardierung Dresdens. „Die Sieger befreien ein Land, das sie selbst zerstört haben.“ Frank trinkt Cola. Keinen Guavensaft, der für die Reisenden im Kühlschrank bereitsteht. Draußen schneit es. Der Wind wirbelt die Flocken nach oben. Die Stadt verschwindet im silbrig gebrochenen Nachtlicht. Über den Alexanderplatz stapfen zwei Menschen im Schnee.

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„Eigentlich sollte in diesem Raum Schweigepflicht sein oder immer stündlicher Wechsel: 1 Stunde Redeerlaubnis, 1 Stunde Schweigepflicht. Ich bin endlich wieder allein hier. Dann hat der Raum die richtige Größe, dann passen die kleinen, großen, alle möglichen Gedanken auch rein.“ (24. Februar)

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Ein paar Tage später der nächste Versuch, dem Fremden zu begegnen. Er endet mit einer Verstimmung. Robert ist da. Am Ende wird sich herausstellen, dass sich seine Anwesenheit als roter Faden durch das Projekt zieht. Die meisten kennen ihn. Gebadet hat er schon. Wie bei der ersten Begegnung erzählt er, dass man sich hier ja begegnen soll. „Tun wir doch. Nur dass wir die Falschen sind.“

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„Als ich reingekommen bin, hab ich sofort angefangen aufzuräumen. Habe die Asche weggekippt, die leere Zigarettenschachtel weggeworfen. Ich kann keine Unordnung ertragen. Kein fremdes Haar auf meinem Kopfkissen. ‚Solange es keine Schamhaare sind …‘ Keine schmutzige Wäsche. Kein unabgewaschenes Geschirr. Keine dreckigen Männerunterhosen neben meinem Bett. Keine Fingerabdrücke am Fensterbrett, keine Zahnpastareste auf dem Badezimmerspiegel. Wie urban. Wie schrecklich. Bin ich etwa alt? Oder bin ich so verloren als Stadtbewohner?“ (23. Februar)

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Begegnung ist Kunst. Heute ist der letzte „Touropa“-Tag. Durch die Schwierigkeiten gekämpft, kommt Melancholie auf. Wo steht, dass man dann gehen soll, wenn es am schönsten ist?

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„Ich glaube, ich lasse mir die Ziffer 3508 mal in ein Shirt sticken.“ (28. Februar)