Das Auge des Orkans

Moskau 1937 – der Höhepunkt der stalinistischen Diktatur. Karl Schlögel zeigt die intime Mischung aus Terror und Enthusiasmus

VON EGBERT HÖRMANN

Nach Moskau, nach Moskau!“, verzehrten sich schon 1903 Anton Tschechows drei Heroinen: Moskau als Sehnsuchtsort, die Sonnenstadt, allgegenwärtig, ein Prinzip Hoffnung, Metapher für das Nicht-Verwirklichte, das nach Verwirklichung im Leben Drängende. Moskau ist das Zentrum verschiedener russischer Mythen: das Mütterchen, die apokalyptische Stadt, das Dritte Rom, der „Untergrund“ der Dissidenten, Welthauptstadt und Mekka der kommunistischen Weltrevolution.

Mit „Terror und Traum – Moskau 1937“ beschäftigt sich nun der Historiker Karl Schlögel, der wohl wie kein anderer europäischer Wissenschaftler bedeutende Beiträge zum Verständnis Russlands und der Sowjetepoche geschaffen hat, erneut mit der Metropole an der Moskwa. Wie Schlögel im Vorwort schreibt, war ihm schon sehr früh klar, dass alle Linien seiner russischen Studien zwangsläufig und quasi organisch zu diesem Buch führen mussten.

Warum Moskau im Jahre 1937? In diesem Jahr verschwindet das alte Moskau, und es taucht ein wahrhaft neues Moskau auf. Es ist auf der einen Seite der Ort eines glorifizierten Alltags, einer freudig-festlichen Inszenierung der Zukunft und des „neuen Menschen“ mit seiner „neuen Struktur der Seele“ (Maxim Gorki). Es ist ein irisierendes Spektakel, das den berühmten Stalin’schen Spruch „Das Leben ist leichter geworden, Genossen, das Leben ist heiterer geworden“ (ohne den nach Boris Groys das „Gesamtkunstwerk Stalin“ nicht zu begreifen ist), vordergründig bestätigt: Galaempfänge, Ausstellungen, Festakte, Erinnerungsdaten und Jubiläen, die Pariser Weltausstellung, eine sensationelle ökonomische Zuwachsrate, diverse Großprojekte (vor allem die Metro, der Wolga-Moskwa-Kanal, der Palast der Sowjets), Eroberung der Luftfahrt und der Arktis und die Hyperurbanisierung Moskaus nach dem Generalplan von 1935.

Andererseits ist es ein Moskau von totalitärer Gewalt und absoluter Macht. Moskau ist das Auge des Orkans, der Mikrokosmos aller Veränderungen, die ab 1917 über Russland kamen. Und es ist, wie Schlögel betont, ein Schauplatz der europäischen Geschichte, der eben nicht irgendwo liegt, sondern „auf einer Bruchstelle der europäischen Zivilisation. Daher gehört Moskau 1937 zur Selbstverständigung darüber, was das 20. Jahrhundert für Europa war.“

Es ist der Hauptbauplatz eines radikalen und irreversiblen (Zusammen-)Bruchs. So stellt Wassili Grossman in seinem Jahrhundertepos „Leben und Schicksal“ zur Stalin-Ära fest: „Drei tiefgreifende Ereignisse hatten zur Umwertung des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen geführt: die Kollektivierung, die Industrialisierung und das Jahr 1937.“

Furcht, Paranoia, Absurdität, Willkür, Verwirrung, das Verschwinden von klaren Unterscheidungen und die Auflösung alles Festen sind die Dominanten des Psychosozialen. Das „verfluchte 37er Jahr“ ist die Chiffre für eines der größten Desaster des 20. Jahrhunderts. Es ist ein langes Jahr, ein Fieber- und Blutrausch, das mit dem ersten Moskauer Schauprozess im August 1936 beginnt und „grosso modo“ mit dem dritten und letzten Schauprozess im März 1938 endet. Es ist eine extreme Eruption, die von einer Idee beherrscht wird, die man nicht anders als Thanatologie, Lehre vom Tod, bezeichnen kann.

Schlögel zeigt, wie die unbestreitbare „Echtheit“ eines quasi religiösen Kults, die intime Mischung von Terror, Zustimmung und Enthusiasmus, Gewalt von oben und von unten sich gegenseitig bedingten und die „Räume des Terrors und des Jubels“ (Michail Ryklin) sich überlagerten. So wird ersichtlich, dass die These vom Stalinismus als blankem Terrorismus nicht haltbar ist.

Ausgehend von der Führung, griff der Terror auf die ganze Gesellschaft über. Stalin war der große Leviathan, und seine Allgegenwart setzte sich in den Menschen selbst fest. Der Terror wurde so zur Lebensform, zur Basisausstattung des „Homo sovietcus“, einem anthropologisch neuen Typ, dem „selbstzufriedenen Sklaven“. Die zentrale Frage der Forschung ist die Frage nach dem Warum, einer inneren Ratio.

Warum konzentrierte sich der Große Terror gerade auf diesen Zeitraum? Wie erklären sich die Liquidierung der Lenin’schen Kader, die Säuberung der Eliten, die Entkulakisierungkampagnen, die Massenverhaftungen und die „nationalen Aktionen“ gegen Minderheiten? Fest steht, dass es eine von Stalin geplante und gelenkte Reihe von „Massenoperationen“ war, mit der er auf Umstände reagierte, wie sie sich ihm 1937 darstellten. Stalins paranoide Angst vor dem inneren Feind verband sich mit seiner begründeten Furcht vor einem Krieg mit den Achsenmächten: „Alles, was in Moskau im Jahre 1937 geschieht, geschieht vor dem Horizont des Krieges“, schreibt Schlögel.

Der klassischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung folgend, ist „Moskau 1937“ der Versuch einer „histoire totale“, wobei jede Perspektive, jeder Blickwinkel, jedes Indiz, jedes Genre und jede Quelle für Schlögel interessant sind: Adressbücher, Zeitungsartikel, Filme, Theateraufführungen, Galaempfänge, Schlager, Tagebücher, Verhaftungsberichte, Protokolle, Ausstellungen, Architekturpläne und -entwürfe und die großen urbanen und nationalen Ereignisse.

Massenpsychose, Symptom einer sozialen Hysterie oder einer „penetrierenden Neurose“, Untersuchungsgegenstand für die Psychiatrie und Pathologie? Schlögels faszinierendes Buch bietet keinen Schluss und keine durchgängige These an. Es beharrt auf dem Rätselhaften und Gespenstischen, das Moskau 1937 noch heute von anderen gesellschaftlichen Katastrophen unterscheidet. Zu viele Dokumente und Zeitzeugen sind ausgelöscht worden. Schlögels meisterhaftes, plastisches „Panorama eines heillosen Geschehens“ ist so auch ein Widerstand gegen den Furor des Vergessens und Verschwindens.

Karl Schlögel: „Terror und Traum – Moskau 1937“. Hanser Verlag, München 2008. 815 Seiten, 29,90 Euro