Eine konsequente Selbstbefragung

Sprich, Erinnerung, sprich: Fred Licht lässt in seinem Debütroman „Villa Ginestra“ den Helden an die glückliche Zeit in einer Florentiner Künstlerkolonie zurückdenken – damals, mitten im Alltag unter Mussolini

Darf man glücklich sein, während die Welt ringsum in Scherben bricht? Ist Schicksal Vorherbestimmung oder die Folge eigener Entscheidungen? Welche Dinge sind es wert, weitergegeben zu werden?

Harry ist der Spross einer Genfer Bankiersfamilie. Als er seine schöne Cousine Renée kennenlernt, sind die Umstände denkbar ungünstig. Denn der 14-Jährige ist eigentlich bloß ein Köder: Seine Familie hofft, dass die abtrünnige Exzentrikerin, die in ihrer Florentiner „Villa Ginestra“ eine Art Künstlerkolonie führt, Gefallen an dem Jungen finde, damit eines Tages ihr Vermögen an das schweizer-amerikanische Bankhaus zurückfallen möge. Schließlich muss Geld arbeiten und nicht an fragwürdige Kulturexperimente verschwendet werden!

Doch Harry wechselt die Seiten. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Faschismus erlebt er glückliche Zeiten als Kunstgeschichtsstudent in Florenz und schließt eine innige Freundschaft mit der enigmatischen Renée, die für sein Leben bestimmend werden soll.

Fred Licht hat Spaß am Erzählen, das wird bei der Lektüre seines Debütromans „Villa Ginestra“ schnell deutlich. Souverän verknüpft er unterschiedliche Zeitebenen, Figurenkonstellationen und Erzählperspektiven miteinander – sorgfältig komponiert, aber keineswegs konstruiert. Den Rahmen bildet Harrys Rückblick auf die Jahre in Florenz, die schleichende Barbarisierung des Alltags unter Mussolini, seine Erlebnisse als US-Soldat im Zweiten Weltkrieg und die Rückkehr in die Villa. Doch statt seliger Reminiszenzen eines älteren Herrn handelt es sich um eine konsequente Selbstbefragung, um den Versuch, das eigene Leben zu rechtfertigen.

Wie groß ist der Einfluss familiärer Herkunft? Welche Verantwortung tragen wir für andere Menschen? Kann man innere Freiheit gegen äußeren moralischen Druck aufrechterhalten?

Narrative Dynamik entsteht dadurch, dass Selbstzeugnisse von Renée, ihrem Dauergast Craig Perrin sowie Briefe anderer Figuren in Harrys Erzählung eingeflochten werden. Sie zeigen, wie sehr die Existenzen der Protagonisten ineinander verwoben sind, wie viel sie einander schulden. Alle drei ringen mit ihrer privilegierten Existenzweise, die sie von der Unmittelbarkeit des Lebens abzuhalten scheint. Sie sehnen sich nach Realität. – Jeder wird im Laufe der Zeit seine eigene Entzauberung erleben. Und zugleich glauben alle drei auf ihre Weise an den Wert einer ästhetischen Existenz. Denn die Villa Ginestra repräsentiert nicht bloß den Salon einer reichen Lady, vielmehr ist sie ein aktives Bekenntnis „gegen Korrosion und Korruption, die jedes Leben und jede Epoche bedrängen“.

Es sind große Themen, die Fred Licht anschneidet. Doch immer wieder entführt er seine Leser in wunderbar luftige Szenarien, wie etwa Renées Liebesaffäre mit dem Pariser Taschendieb Gregoire. Dass es am Ende ein paar Schnörkel zu viel werden, ist bei dieser Reverenz an das Leben in Form eines Romans mehr als verzeihlich. ANTJE KORSMEIER

Fred Licht: „Villa Ginestra“. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Andere Bibliothek. Eichborn, Frankfurt a. M. 2008, 456 Seiten, 32 Euro