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Archiv-Artikel

Keine Arbeit, kein Leben

Als Don Quichotte im Braunkohletagebau: Volker Braun hat einen Schelmen- und Abenteuerroman der Arbeitswelt geschrieben

VON JÖRG MAGENAU

Er habe sich erlaubt, den Arbeitstitel stehen zu lassen, schreibt der „Verf.“ in der Nachrede. „Machwerk“ bedeutet nichts anderes als Arbeitstitel. Auch im alternativ gebotenen „Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“ steckt gleich mehrfach der Verweis aufs Arbeiten. „Flick“ ist ein mittelhochdeutsches Wort für Arbeit – auch darauf weist der „Verf.“ hin. Bei der Romanfigur dieses Namens handelt es sich nicht um den Abkömmling einer Großindustriellendynastie, sondern um einen Vertreter des übrig gebliebenen ostdeutschen Proletariats aus dem Lausitzer Braunkohletagebaugebiet. Es ist eine Gegend, die es in vielerlei Hinsicht „hinter sich hat“. Verflickstes Flickwerk. Kein Stein blieb hier auf dem anderen, die Erde wurde aufgerissen und umgewühlt, Dörfer verschwanden im Abgrund: Da hat sich der arbeitende Mensch jahrzehntelang ausgetobt.

Volker Braun, Jahrgang 1939, verdingte sich nach dem Abitur 1958 für mehr als zwei Jahre als Tiefbauarbeiter und Rohrleger im Kombinat Schwarze Pumpe. Seine Arbeit bestand darin, Schlamm aus den endlosen ausgebaggerten Entwässerungsgräben zu schippen, in denen dann Rohre verlegt wurden. Diese Arbeit sei nicht nur „wichtig“, sondern auch „schön“, behauptete der emphatische junge Dichter in seiner ersten Erzählung „Schlamm“. Der Parteizeitung Neues Deutschland bot er 1959 seine Mitarbeit mit den Worten an: „Sehr geehrte Genossen, ich schicke Euch meine Skizze. Da ich noch nichts veröffentlicht habe, wäre ich Euch dankbar für kritische Hinweise. Wenn ihr daran interessiert seid, sende ich Euch ähnliche Skizzen, in denen ich versuche darzustellen, wie wir den Schritt vom Ich zum Wir machen.“ Doch die Skizzen zum Theaterstück „Die Kipper“ wollte das ND nicht drucken. Allzu deutlich wurde darin die Monotonie der Arbeit, die dem marxistischen Ideal der Selbstbestimmung wenig entsprach – ganz abgesehen davon, dass auch mangelhafte Arbeitsschutzbestimmungen zur Sprache kamen. Braun trat zwar als Arbeiterdichter auf. Doch so realistisch hatten sich die DDR-Literaturwarte die Umsetzung des „Bitterfelder Weges“ dann auch wieder nicht vorgestellt.

Im „Machwerk“ kehrt Braun 50 Jahre später an die alte Wirkungsstätte zurück. Was mit dem „Bitterfelder Weg“ begann, findet hier seine Aufhebung. Immer noch ist der Schriftsteller an der Seite der Arbeiter, nur dass es mittlerweile keine Arbeit mehr gibt. Nicht nur die DDR ist inzwischen untergegangen. Brauns Meister Flick kann das nicht begreifen, und erst kurz vor dem Tod dämmert ihm, dass es mit der Arbeit, die sein ganzes Leben bestimmte, aus und vorbei sein könnte. „Sollte sein Machwerk enden?“, fragt er sich da, und der Gedanke lässt ihn schaudern: „Das würde das Ende aller Dinge sein.“ Also betrachtet er auch das Sterben noch als Arbeit, bis er dann endlich sagen kann: Es war getan.

Flick ist ein Ritter von der traurigen Gestalt, ein herumirrendes Gespenst, das aus der Zeit gefallen ist und deshalb die Zeitgenossen erschreckt. Die zerbröselnden Industriebauten sind seine Ritterburgen. Mit seinem nichtsnutzigen Enkel, der ihn treu begleitet und das Schlimmste mal hervorruft, mal zu verhindern sucht, hat Braun ihm einen echten Sancho Pansa zur Seite gestellt. So wie Don Quichotte als letzter Vertreter des Rittertums die neue Zeit durchstreifte und gegen Windmühlen kämpfte, so zieht Meister Flick als letzter Arbeiter durch das zerfurchte Land und bringt die neuzeitlichen Windräder zum Einsturz. Zweifellos gehört er nicht zur ökologischen Avantgarde. Der Anblick der zerstörten Gegend schmerzt ihn nicht, weil sie ja durch Arbeit derartig umgestaltet wurde und also daran erinnert. Erst wenn sich nun die Natur die Gegend zurückholt und die gegrabenen Löcher mit Wasser gefüllt werden, wird die Landschaft seiner Meinung nach im Stich gelassen. Die Spur der Steine, die in der Lausitz umgewälzt wurden, der „Findlinge also, Trophäen des Vorschnitts“, weist zurück in die Eiszeit. In ihrer neuen Lage an den Seen des entstehenden Erholungsgebietes werden sie die nächsten „Millionen Jahre von der Arbeitszeit“ zeugen.

Früher, im Tagebau, war Flick Experte für Katastrophen. Wenn irgendwo ein Kran umkippte, ein Waggon entgleiste, ein Bagger havarierte, dann war er gefragt. Mit knapp 60 verliert er den Job wie so viele, ohne das Nichtstun jemals geübt zu haben. Alles, was ihm begegnet, nimmt er unter dem Aspekt der Arbeit wahr – und so erscheint er auch auf dem Arbeitsamt mit Helm und in voller Montur und der Frage: Was liegt an? Wo ist das Problem? Überall eckt er an mit dieser Haltung. Er wird zum Streikbrecher, zum notorischen Baumzersäger als 1-Euro-Jobber, und in Horno betätigt er sich als Abrissarbeiter im Garten eines alten Ehepaares, das die Heimat nicht aufgeben möchte. Auch eine Begegnung mit den „Glücklichen Arbeitslosen“ in Berlin überfordert ihn: Das eigene Nichtstun als Arbeit zu deklarieren – das kann ja wohl nicht ihr Ernst sein. Er bezieht reichlich Prügel, dieser Don Quichotte der Arbeitswelt, und verliert sogar einen Arm. Man muss ihn sich vorstellen wie einen alt gewordenen Manfred Krug aus der „Spur der Steine“. Einer, der immer noch viel Kraft hat, aber nicht mehr weiß, wohin damit.

Volker Braun mischt sich immer wieder als „Verfasser“ ein und macht deutlich, dass er es ist, der diese Figur in Bewegung versetzt, so wie ein Marionettenspieler seine Puppe. Das Buch ist in viele kleine Kapitel unterteilt, die mit kurzen, den Inhalt zusammenfassenden „Vorreden“ versehen sind. Braun nennt sie „schwache Schwänke“ oder „unnütze Novellen“. Auch formal knüpft er damit an Cervantes’ „Don Quichotte“ an – und an Irmtraud Morgner, die mit „Trobadora Beatriz“ einen ähnlich gewitzten Schelmen- und Abenteuerroman geschrieben hat. Braun erneuert damit die Tradition eines fantastischen Realismus, der in der DDR-Literatur stark gewesen ist, aber weit über sie hinausweist.

Braun ist kein Arbeiterdichter, aber doch ein Dichter der Arbeit. Dass auch Lesen Arbeit ist – diese Erfahrung will er seinem Meister Flick schließlich nicht ersparen, so fremd es dem auch sein mag, ein Buch aufzuklappen und ruhig davor zu sitzen. So wie Flick mit seiner Rohrzange die Dinge bearbeitet, die ihm in die Quere kommen, so bearbeitet Braun die Worte und schraubt und dreht an ihnen herum und verpflanzt sie in neue Kontexte. Der Satz „Er ging der Arbeit nach“ bekommt bei ihm eine eher zynische Bedeutung, indem er ihn ganz wörtlich nimmt. „Was haben Sie angestellt?“ ist eine ähnlich doppelbödige Frage, da eine ehrliche Antwort Anstellung eher verhindert. „Sorgerecht“ übersetzt Braun als das Recht, sich Sorgen zu machen. Und „Arbeitszeit“ wird, da Arbeit verschwindet, zum Begriff einer Epoche, die zu Ende gegangen ist.

Das lyrische Temperament bricht sich in jedem seiner quirligen Sätze Bahn. Vielleicht ist es manchmal des Guten zu viel, so verschnörkelt und bizarr ist diese Sprache, die ihre Bewegung aus sich selbst heraus produzieren muss, da ja draußen in der Welt so viele Widerstände zu überwinden sind. Da werden die Gedanken im Schreiben produziert, das also tatsächlich ein Produktionsprozess ist. Der Weg „vom Ich zum Wir“, den der junge Braun avisierte, ist jedoch verstellt. Flick ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und so greift der arbeitende Dichter Volker Braun zum Äußersten: Er nimmt ein Gedicht und rückt es in Flicks Schichtbuch ein, auf einer Seite, die ansonsten leer geblieben wäre, weil Flick dann doch einmal „zur Ruhe kam“ und „die Handlung zu nichts führte“. Es ist eine Variation auf Paul Gerhardts Choral „Nun ruhen alle Wälder“, wo es hieß: „Das Haupt, die Füß und Hände / Sind froh, dass nun zum Ende / Die Arbeit kommen sei; / Herz freu dich, du sollst werden / Vom Elend dieser Erden / Und von der Sünden Arbeit frei.“ Braun zitiert die großartige Neufassung des Dresdner Lyrikers und Pfarrers Christian Lehnert. Auch dafür lohnt es sich, dieses große Epitaph auf die Lausitzer Urlandschaft der Arbeit zu lesen:

„Die Landschaft kippt, wird grauer / Ein nasser Wind, ein Schauer / Die Piste ragt ins All. / Verschüttet sind die Stollen / Die Erde treibt in Schollen: / Du bist ihr warmer Widerhall. // Turbinen, Räder, Wellen / Die Schädel noch im Hellen / Im Dunkel der Asphalt. / Du fliehst die tausend Lichter / Gewebe, immer dichter / Die Augen werden langsam kalt. // Sei still und schlafe, warte / Und träume nichts und warte / Zu hoffen ist kein Grund. / Hinweggerollt sind Meere / Kulissen, schwarze Leere / In der sich öffnet Gottes Mund.“

Volker Braun: „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 222 Seiten, 19,80 Euro