MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS

Gefühle

Maximilian Steinbeis: „Schwarzes Wasser“. C. H. Beck Verlag, München 2003, 154 S., 17,90 €

2003 war nicht das Jahr der jungen deutschen Literatur. Die Verlage zeigten sich zurückhaltend mit Veröffentlichungen aus diesem Genre, aus vielerlei Gründen: die allgemeine Rezession, das Ausbrennen der Popliteratur, die Erfolglosigkeit der vielen Judith-Hermann-Epigoninnen. Die Debütanten und jungen Autorinnen, die mit einem ersten Buch auf sich aufmerksam machen konnten, hatten es schwer, überhaupt einen Stich zu machen gegen die übermächtige Konkurrenz der großen Alten von Walser bis Wolf und der neuen Großen von Genazino über Gstrein bis Timm.

Zum Beispiel der 1970 geborene Maximilian Steinbeis mit seinem ersten Roman „Schwarzes Wasser“. In diesem geht es eher leise und bedächtig um die Gefühlsverwirrungen junger Erwachsener im Vorfeld und Verlauf einer Party. Diese findet zu Ehren Elisabeths statt, die an diesem Tag 20 wird, aber alles andere als glücklich ist: Sie ist noch immer Jungfrau und will endlich die Liebe kennen lernen. Nicht sehr dramatisch das eine, das wird noch, Mädchen, das wird noch!, verständlich das andere, entwickelt Steinbeis nun mit mal schmucklosen, mal stimmungsvoll zwischen Eric Rohmer und „Bilitis“ angesiedelten Sätzen die Leiden der jungen Elisabeth („Ob er wieder eine Latte hat, mit ausgestreckten Beinen daliegt und einem Zelt in seiner Boxershort?“). Und dazu, was so vor sich geht in den Köpfen ihrer Freunde Wolodja und Albert; der eine Elisabeths bester Kumpel, der andere ein Angreifer: „Heute Abend ist sie fällig, deine Kleine!“

Den Verlag hat diese Konstellation zu der Klappentextdichtung inspiriert, Steinbeis erzähle „vom Glück und der Gewalttätigkeit der Liebe“, „von dem Ungeheuren, das möglich ist zwischen den Menschen“. Das klingt stark, versteckt sich in dieser blutarmen Geschichte aber aufs Beste. Nicht mal Steinbeis traut seinem Personal und dessen juvenilem, hormongesteuertem Erwachen. Den Großteil seines Romans nimmt eine dezent schlüpfrige und mäßig fesselnde Erzählung ein, die der fast 100-jährige russische Großvater von Wolodja auf seinem Krankenbett zum Besten gibt. Albert ist zufälliger Zuhörer, liefert Stichworte und Zigaretten (was für ein Kniff!) und bekommt zu hören, wie sich der Alte einst an die junge, „kohlrabenschwarzäugige“ Katja heranmachte, sie zu seiner Ehefrau und sich ins Haus holte und eines Tages auch schwängerte.

Diese lange Erzählung innerhalb der gemächlich vor sich hin plätschernden Rahmenhandlung soll wohl die Unschuld der jungen Leute und ihre durcheinander wirbelnden Gefühle spiegeln oder doppeln, vielleicht auch Warnung und Ausrufezeichen sein: Schwarz sind die Gewässer der Liebe, ach ja, und tief, und seltsame Kreise drehen sie. Den Teen Spirit mitsamt seinen schönsten und schlimmsten Folgen aber, den hat man woanders schon viel kraftvoller, aufregender und spannender dargestellt bekommen.

Liebe 1

Dana Bönisch: „Rocktage“. KiWi-Paperback, Köln 2003, 158 S., 6,90 €

Um Liebe zwischen jungen Menschen geht es auch in Dana Bönischs ersten Roman „Rocktage“. Puck, Bönischs Held, liebt Gwen, die aber mit Stefan zusammen ist. Immerhin gibt die Liebe zu Gwen Puck zeitweise Halt in seinem ziellosen Dasein: Er verliert einen Job, hat keine Lust auf die Uni und sehnt sich nach Authentizität. Seine guten Tage nennt er „Rocktage“, das sind die stillen und traurigen, seine schlechten „Gummispülhandschuhtage“, das sind die, in denen er das Leben gar nicht spürt. Puck ist ein spät pubertierender Melancholiker, der Goethes Werther liest, Frösche liebt und ansonsten noch nicht recht weiß.

„Rocktage“ erinnert an das „Soloalbum“. Nicht zuletzt, weil der Roman mit viel Musik unterlegt ist, vor allem von Ash, und Puck oft von den Placebo- und The-Verve-Augen Gwens schwärmt (wenn die Autorin man hier nicht ihre eigenen Sehnsüchte in die ihres Helden projiziert). Aber er ist trotz eines Unhappyends braver, nicht so wissend-zynisch-übellaunig: Hier dürfen selbst labbrige Fischstäbchen kurz „seufzen“ und sich auf die andere Seite drehen! Manchmal ist „Rocktage“ auch wie „Crazy“ oder „Der Vogel ist ein Rabe“, leuchtet aber nicht so. Die KiWi-Paperbackschule eben, unter der Leitung von Kerstin Gleba als Oberstudienrätin an der dunkelgrünen Schultafel entworfen. There must be a better life könnte dort groß als Aufgabe stehen, um es mit der Mittachtziger-Wimp-Band Biff Bang Pow zu sagen. Oder mit der 1982 geborenen Dana Bönisch: „Die Liebe in den Zeiten der Maul-und-Klauenseuche“. „Rocktage“ wäre 1998 das nächste große Ding gewesen, dürfte aber heute höchstens ein paar 15- bis 18-Jährige interessieren.

Liebe 2

Marcus Ingendaay: „Die Taxifahrerin“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 300 S., 19,90 €

Ein richtiges Schwergewicht im Vergleich zu Bönisch und Steinbeis ist dagegen Marcus Ingendaays Debütroman „Die Taxifahrerin“. Allein dass sein Verfasser im vergleichsweise strammen Alter von Mitte vierzig ist, merkt man diesem Buch an, also den Vorsprung an Menschenkenntnis, Erfahrung, Filmen, Büchern und vor allem Textarbeit: Ingendaay verdiente seine Brötchen bislang als Übersetzer von großen amerikanischen Schriftstellern – William Gaddis, Don DeLillo, David Foster Wallace.

Im Mittelpunkt von Ingendaays Debüt steht die 24-jährige lesbische Taxifahrerin und Analphabetin Chris, die sich in die psychisch kranke, eigentlich heterosexuelle Boutiquenbesitzerin Gudrun verliebt. Allein die Dialoge zwischen den beiden aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten stammenden Frauen sitzen wie angegossen. Auch die ruppige Alltagssprache, in der Chris erzählt, rockt gut, die Sexszenen sind keine Spur daneben, und facettenreich und psychologisch korrekt entrollt sich im Verlauf des Romans Chris’ Biografie und ihr Taxi-Alltag.

Ingendaay spielt, durchaus selbstverliebt, mit vielen Effekten herum, schaltet immer wieder, wenn Chris im Taxi sitzt, Satz- und Songfetzen aus dem Radio in seinen Text (die überflüssigerweise fett angestrichen sind) und baut manche Szene, als hätte er gleich mit an eine Verfilmung des Romans gedacht. Hier ein Schnitt, dort ein Schwenk, hier diverse „Kodak-Momente“, wie Chris sie nennt, dort der große Bruder, der alles beobachtet. Dazu beamt sich Chris, wenn die Wirklichkeit mal wieder zu nah an sie heranrückt, gern in die grelle Welt ihrer bärenstarken, düster-schönen und Götter mordenden Fernsehheldin Xena.

Verständlich, dass es auf diese Weise seine Zeit dauert mit Chris und Gudrun, dass Gudruns Schicksal an manchen Stellen mehr geraunt wird, als dass es für echte Gothic-Momente taugt. Verschmerzen lässt sich das aber umso besser, wenn etwa aus einer Stadt wie Köln plötzlich eine vibrierende Großstadt wird, in der nicht nur Touristen aus Bergheim, Studenten und F.C.-Köln-Fans unterwegs sind, sondern auch „umherziehende Drogen-Pusher“, die aussehen wollen wie 2 Pac oder „prollige Loddels aus den miesesten Ecken der Stadt“. Sollte Martin Scorsese an ein „Taxi Driver“-Remake denken, Marcus Ingendays Köln wäre keine schlechte Alternative zu New York.

Liebe 3

Markus Seidel: „Satt“. Knaur Lemon, München 2003, 157 S., 6,90 €

Schon weit über den Debütantenstatus hinaus, aber immer noch ein junger Autor ist der 35-jährige Markus Seidel. „Satt“ müsste nach seinem 1998 erschienen Romandebüt „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“ inzwischen sein fünfter Roman sein. Pro Jahr ein Roman, selbst wenn keiner besonders dickleibig ist, das erinnert verdächtig an Danella, Konsalik oder Leon, an Lesefutterproduzenten und Fließbandkrimischreiber.

Markus Seidel ist seinerzeit mit entdeckt worden im Zuge des neuen deutschen Jungliteraturhypes, und auf einem seiner Bücher prangt der Hinweis, dass er noch vor Judith Hermann mit „dem von Nobelpreisträger Günter Grass ins Leben gerufenen Alfred-Döblin-Stipendium ausgezeichnet“ wurde. Inzwischen passt Seidel eher in die Kategorie „Männer- und Frauenzeitschriftenliteratur“, die zuletzt durch Autoren wie Daniel Bielenstein oder Frank Goosen eine neue Blüte erfahren durfte. Seidels Bücher werden ausschließlich bevölkert von Menschen aus der Generation der 25- bis 40-Jährigen, die Jonas und Justus heißen, Katarina und Isolde und nie Nachnamen tragen. Sie verlieben sich, entlieben sich, kommen zusammen, verlieren sich und so weiter. Kurz: Sie üben sich in der „Kunst, das Leben zu lernen“, (wie es auf dem Cover von „Satt“ heißt), und Seidel versucht diesen Übungen andeutungsweise Tiefe zu verleihen.

In „Satt“ hat es der 39-jährige Schriftsteller David satt, immer wieder „Fragen nach dem autobiografischen Gehalt meiner Texte, der Quelle meiner Ideen für die Bücher und wie lange ich an einem Text schreibe“ zu beantworten. Er nimmt eine Auszeit vom Literaturbetriebsdasein und flüchtet in eine Stadt namens Glückstadt (!). Hier lernt er die 34-jährige Marie kennen, die nach einigen glücklichen Glücksstädter Monaten den Tod ihres Mannes Jakob betrauert. David und Marie treffen sich ein paar Mal, haben einmal Sex, dann lässt sie ihn in ihrem Haus sitzen und flüchtet nach Hamburg.

Das alles erzählt Seidel flott und leichthin. Abwechselnd lässt er David und Marie zu Wort kommen, kennt keine falsche Bescheidenheit, wenn er auf eines seiner eigenen Bücher verweist, auf „Vom Stand der Dinge“, das David liest, aber nicht „sonderlich gefällt“, und führt alles seinem erwartbaren Ende entgegen: Marie stirbt, David schreibt ein Buch über sie in nur neun Wochen. Da überlegt man abschließend nur noch, ob wohl auch der Vielromanschreiber Seidel zuletzt eine Krise hatte und sie sich nun in der Figur des David vom Leib geschrieben hat – „zum ersten Mal seit langem war ich wieder überzeugt davon“, sagt David einmal, „ein Schriftsteller zu sein, jemand, der ein Handwerk beherrscht und auch zukünftig beherrscht, ganz gleich was passiert“.

Leben

Peter Stamm: „In fremden Gärten“. Arche Verlag, Zürich 2003, 154 S., 18 €

Das Zitat aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, das der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm seinem neuem Erzählband vorangestellt hat, ist nicht nur titelgebend, sondern passt außergewöhnlich gut: „Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte.“ Die Figuren in den elf Erzählungen von „In fremden Gärten“ meint man tatsächlich irgendwann und irgendwo schon begegnet zu sein: Die Frau, die sich fragt, was mit der Nachbarin los ist, in deren Abwesenheit sie sich um Haus und Garten kümmert. Der junge Mann, der beruflich nach London versetzt wird, ein Karrieresprung!, der aber nicht weiß, ob er London überhaupt mag. Die Frau, der das Haus zu groß geworden ist nach dem Auszug der Kinder und dem Tod ihres Mannes. Der alte Mann und seine Tochter, die sich fremd geworden sind, nach langer Zeit wieder sehen und spüren, dass sie nolens volens zusammengehören.

Leicht beschädigt wirken diese Menschen alle, aber ihr durchweg unspektakuläres Leben können sie bewältigen. Es liegt ein Grauschleier über ihrem Dasein und eine Tragik, die Peter Stamm mit sparsamsten Charakterzeichnungen und kargen, schönen, Empathie erzeugenden Sätzen hervorzurufen versteht. Nachdem Stamm 1998 für seinen Erzählband „Blitzeis“ die Weihen des Literarischen Quartetts erhalten hatte und in Folge auch seine beiden Romane „Agnes“ und „Ungefähre Landschaft“ in die Nähe von 30.000er-Auflagen gekommen waren, war er nicht zu Unrecht in die Nähe eines Raymond Carver oder Richard Ford gerückt worden. Doch anders als bei den beiden großen Amerikanern, deren Geschichten sich oft nur einzeln lesen lassen, so intensiv sind sie, kann man es sich bei Stamm fast zu schnell zu wohnlich machen. „In fremden Gärten“ lässt sich, ungewöhnlich für einen Erzählband, in einem Rutsch lesen. Man wird geradezu süchtig nach diesen Geschichten. Aber es ist auch viel Glitzern dabei, das nach der Lektüre eine gewisse Leere beschert. Man fragt sich dann: Steckt wirklich so viel drin in den Aussparungen? Sind die angedeuteten Geheimnisse wirklich welche? Oder ist Peter Stamm ein wohlmeinender Zauberer, der mit seiner Prosa einfach nur versucht, den Banalitäten des Lebens dauernde Größe und Schönheit zu verleihen?