: Das Göttinger Synagogen-Puzzle
Die Jüdische Gemeinde in Göttingen erhält nach 70 Jahren wieder ein eigenes Gotteshaus. Das Gebäude wurde im Solling abgetragen und umgesetzt. Zwischenzeitlich hatte es als Stall gedient
VON REIMAR PAUL
Die Veranstaltung unterliegt höchsten Sicherheitsbestimmungen. Am 9. November, 70 Jahre nach der Zerstörung der Göttinger Synagoge in der Pogromnacht der Nazis, wird in der Universitätsstadt wieder ein jüdisches Gotteshaus eingeweiht. Vor einem Gottesdienst in der Synagoge ist im Alten Rathaus eine Feierstunde geplant. „Die Synagoge ist dann die einzige zwischen Kassel und Braunschweig und Hannover, die auch als Gotteshaus genutzt wird“, sagt Harald Jüttner vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde.
Die Bauarbeiten laufen schon seit zwei Jahren. Auf dem Grundstück der Jüdischen Gemeinde am Rand der Göttinger Innenstadt entstand nicht einfach nur ein Neubau. Stattdessen wurde eine alte Fachwerksynagoge aus dem 50 Kilometer entfernten Dorf Bodenfelde im Solling originalgetreu wieder aufgestellt. Die Synagoge ist fast 200 Jahre alt, Historiker datieren den Bau auf 1825. Nachdem die Nazis die kleine jüdische Gemeinde in Bodenfelde vernichtet hatten, erwarb ein Bauer das Gebäude – es war nur deshalb nicht niedergebrannt worden, weil die SA ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Häuser befürchtete. Der Enkel des Landwirts war der letzte Besitzer, er nutzte die in einer Hofecke stehende Synagoge zuletzt als Stall und Schuppen.
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Göttingen hatten die vor sich hin gammelnde Synagoge vor mehr als zehn Jahren zufällig entdeckt und mit dem Eigentümer eine Option für den späteren Kauf vereinbart. Denkmalpfleger, Restauratoren und Bauforscher staunten nicht schlecht, als sie unter mehreren Farbschichten an der Decke einen verborgenen, fein gemalten Sternenhimmel entdeckten. An anderen Stellen fanden sie unter blätterndem Putz geometrische Formen, Blumen und Ranken.
Zunächst hatten Denkmalschützer verlangt, das Gebäude als Ganzes zu versetzen, doch das ließ sich aus Kostengründen nicht machen. So wurde die Synagoge in Einzelteile zerlegt. Riesige Tieflader brachten die tonnenschweren und mehrere Meter hohen Wandelemente nach Göttingen, mit Hilfe eines Krans und von Winden stellten Handwerker sie auf dem Gemeindegrundstück wieder auf. In einer Zimmerei waren zuvor die schadhaften Balken erneuert worden. Ein „Förderverein für ein Jüdisches Zentrum“ trägt die Kosten für den Abriss, Transport und Wiederaufbau des Gotteshauses in Höhe von rund 200.000 Euro. Der Verein hatte im Jahr 2000 auch das 3.600 Quadratmeter große Grundstück gekauft und der Jüdischen Gemeinde übereignet.
Die vor zwölf Jahren wieder gegründete Jüdische Gemeinde in Göttingen hat nach eigenen Anzeigen etwa 200 Mitglieder. Die meisten von ihnen sind Einwanderer aus Osteuropa. Vor drei Jahren riefen konservative Juden in der Universitätsstadt zudem eine Jüdische Kultusgemeinde ins Leben, sie verfügt in einer Privatwohnung über eine eigene kleine Synagoge.
An die alte, von den Nazis zerstörte Göttinger Synagoge erinnert heute ein Mahnmal des italienischen Künstlers Corrado Cagli. Die Metallskulptur hat die Form eines Davidsterns. Jedes Jahr am 9. November kommen dort hunderte Göttinger zusammen, um der Novemberpogrome von 1938 zu gedenken.
In der „Reichspogromnacht“ beobachteten Nachbarn, wie SA-Leute in der Synagoge Feuer legten und die in dem Gebäude lebende jüdische Familie mit dem gerade geborenen Säugling auf die Straße jagten. „Es hat dann die ganze Nacht gebrannt. Wir haben als Kinder zitternd dagestanden“, erinnert sich eine Augenzeugin. Andere schildern, dass die Feuerwehr schnell am Brandort eintraf. Doch statt zu löschen, bespritzten die Männer nur die umliegenden Häuser. Die Synagoge brannte bis auf die Grundmauern nieder.