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Archiv-Artikel

nekrolog Der Diamant aus Gummi

Eine Hommage an den brasilianischen Fußballkünstler Leonidas, der 1938 nicht Weltmeister werden durfte

Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften ist reich an verheerenden Trainertölpeleien. Helmut Schöns Entscheidung, Franz Beckenbauer im Finale von 1966 zur Bewachung Bobby Charltons abzukommandieren; Alf Ramseys Gegenzug vier Jahre später, als er besagten Charlton bei einer 2:0-Führung der Engländer im Viertelfinale gegen die Deutschen vom Platz nahm; oder Bilardos Weigerung, im Finale 1986 den verletzten argentinischen Libero Brown auszuwechseln, weil er dann den in Ungnade gefallenen Passarella hätte bringen müssen, und den Deutschen so den Ausgleich zu ermöglichen. Nichts allerdings kommt dem gleich, was sich Adhemar Pimenta beim WM-Turnier 1938 in Frankreich leistete. Brasiliens Coach war so siegessicher vor dem Halbfinale, immerhin gegen Titelverteidiger Italien, dass er den damals besten Fußballer der Welt, und einen der besten aller Zeiten, draußen ließ. Leonidas da Silva, so Pimentas Argumentation, solle für das Finale frisch sein. Es wurde aber nur das Match um Platz drei, denn die Italiener gewannen 2:1 und krönten sich anschließend gegen Ungarn zum Weltmeister. Leonidas traf noch zweimal beim 4:2 gegen Schweden. Acht Tore in vier Spielen hatte er bei dieser WM geschossen.

Wegen Pimentas Dummheit sollte es noch 20 Jahre dauern, bis Brasilien Weltmeister wurde. Für Leonidas jedoch gab es keine Chance mehr. Der war zwar bis 1950 aktiv, die letzten acht Jahre beim FC São Paulo, doch das nächste Weltturnier fand erst im Jahr seines Abschieds statt, und da hatten in Brasilien bereits jüngere Stars wie Zizinho oder Ademir sein Erbe angetreten.

Geboren wurde Leonidas 1913 in Rio de Janeiro, mit 17 betrat er beim Klub Sirio-Libanes die große Fußballbühne. Sein internationales Debüt war Aufsehen erregend. Zehn Minuten vor Ende einer Partie gegen Uruguay lag Brasilien mit 0:1 zurück, in seiner Verzweiflung schickte der Trainer den 18-Jährigen aufs Feld. Mit zwei Treffern schoss dieser sein Team noch zum Sieg, ein Tor erzielte er per Fallrückzieher – eine bis dahin unbekannte Form der Fußballakrobatik, als deren Erfinder Leonidas gilt. In seiner Heimat nannte man ihn „Homem de Borracha“, Gummimann, populärer wurde jedoch bald jener Name, den ihm die beeindruckten Uruguayer verliehen: „Schwarzer Diamant“. Außerdem bekam der junge Ballkünstler sogleich einen für damalige Verhältnisse luxuriösen Vertrag bei Peñarol Montevideo.

Lange hielt er es in der Fremde nicht aus, dafür klapperte er in seiner fast zwanzigjährigen Karriere nahezu alle brasilianischen Spitzenklubs ab und holte zwölf Meistertitel. In 26 Länderspielen gelangen Leonidas – Spielgestalter, Inspirator und Torjäger in einer Person– 25 Treffer. Die WM 1934 in Italien geriet allerdings zum Kurztrip, denn Brasilien verlor sein einziges Match, das Achtelfinale gegen Spanien, mit 1:3. Torschütze: Leonidas.

Vier Jahre später lagen ihm Europas Fußballfans jedoch zu Füßen, nachdem er bei seinem ersten Auftritt im Achtelfinale gegen Polen als erster Spieler vier WM-Tore in einem Match geschossen hatte. Fünf Minuten später schaffte dieses Kunststück allerdings auch der Pole Willimowski, Brasilien siegte schließlich 6:5, erste Hinweise auf eine nicht ganz sattelfeste Abwehr. Auch in der folgenden Runde gegen die Tschechoslowakei wurde nicht recht deutlich, worauf Coach Pimenta seinen Hochmut gründete. Die erste Partie endete mit 1:1 Toren, drei Platzverweisen und einer Massenschlägerei, das Wiederholungsspiel gegen den geschwächten Gegner – Stürmer Nejedly hatte sich in der Skandalpartie das Bein, Wundertorwart Planicka den Arm gebrochen – gewann Brasilien mit 2:1. Dann schlug Pimenta zu, und der Traum vom Titel zerbrach.

Die Diskussion, ob Leonidas oder Pelé Brasiliens bester Fußballer gewesen sei, dauert bis heute an. Einigkeit herrscht darüber, dass der Gummidiamant ein weitaus besserer TV-Kommentator war. Als solcher erfreute er sich viele Jahre lang größter Beliebtheit. Am Samstag starb Leonidas im Alter von 90 Jahren.

MATTI LIESKE