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Archiv-Artikel

Nichts wie weg hier

Ein Tag, eine Nacht, eine Kreuzung: Neco Celiks Film „Alltag“ ist Kreuzberg gewidmet und erzählt dabei unfreiwillig vom Terror des Authentischen

Wie eine Lupe beugt sich die Kamera über die Kulisse. Mariannenstraße, Ecke Naunynstraße. Kreuzberg 36. Berlin City. Mikrokosmos. „Alltag“ heißt der Film, aber der Off-Text verspricht schon, dass es kein Tag wie jeder andere sein wird. „Ich habe mein ganzes Leben an dieser Kreuzung verbracht“, betont Neco Celik den Bodensatz seines Films, eine Mischung aus trotzigem Revierpatriotismus und zähem Überdruss. Die klassische „Einheit von Zeit und Ort“, die diesem Film Form und Halt gibt, empfindet man im eigenen Leben oft als Korsett.

Daraus könnte sich eine Spannung ergeben: eine Geschichte zu erzählen als Hommage an einen Ort, aber mit lauter Figuren, die nur eines wollen, nämlich da weg. Der Ort wäre markiert von den Bemühungen, ihn zu verlassen, oder dem halbherzigen Durchspielen dieser Flucht, Tag für Tag.

„Ein Tag, eine Nacht, eine Kreuzung“ war Celiks Grundidee. Es geht also um Verdichtung, um Dichtung. Es treten auf: Veit in der Vollreinigung, der sich aus dem Schmutz anderer Leute das Kleingeld für seine Weg-von-hier-Träume zusammenspart. Die Schwester Franka, die auf den Richtigen wartet, und die Mutter Verona, der der Falsche schon davongelaufen ist. Der Bruder Utz, der auf die schiefe Bahn geraten und doch nur zwei Straßen weiter bis zum Kottbusser Tor gekommen ist. Auf der anderen Straßenseite liegt das Wettbüro, wohin alle – außer Veit – ihr Geld hintragen, und wo die Träume unerfüllt versickern.

Dramatik ins Bild bringt schließlich die schöne Aliya, um die sich zwei streiten: Damit kommen das Prinzip „Es kann nur einen geben“, die Rivalität und schließlich der Tod ins Spiel. Denn die Frau kann ja nicht einfach gehen, sie muss warten, dass sie der Richtige mitnimmt, und der Richtige muss den Geldkoffer dabei haben. So ist das mit den Klischees, selbst auf einer Kreuzberger Kreuzung. Der Rest ist Lokalkolorit und Jargontext. Irgendwo zwischen den Bildern lauert der schmollende Vorwurf, dass die Väter versagt haben.

Es ist eine Sache, ein Insider zu sein. Eine andere ist es, seine Geschichte zu erzählen, ohne ihr das Geheimnis des Widersprüchlichen zu nehmen. Allzu schnell verkriecht sich das Authentische ins Szenenbild und führt von dort aus ein unerbittliches Regiment gegen alles, was untypisch wäre. Denn alles, was auf dieser Bühne geschieht, ist authentisch! Lustiger wäre es, nicht die Figuren als Gefangene eines Milieus, sondern die Darsteller als Geiseln ihrer Rolle zu sehen. „Ich will nicht sterben!“, schluchzt etwa Kida Ramadan alias Kida, der Pechvogel mit der großen Nase, als es einmal brenzlig wird. Dann sagt er es noch mal: „Ich will nicht sterben.“

Aber er muss es ja auch nicht, und dieses Wissen schmunzelt schon um seine Mundwinkel. Solche brüchigen Momente sind wertvoll, weil sie davon erzählen, wie es ist, einen zu spielen, der so ist wie man selbst, nur nicht ganz. „Ich verlange Respekt!“, fordert Neelesha Bavora alias Aliya, und ihr Wutanfall lädt dazu ein, das Schauspielern als eine unterdrückte Rebellion der Figur zu begreifen. Die Aggression gegen Regale und das, was darauf steht, oder das Stopfen eines Hühnerarschs wären dann nicht mehr wohlfeile Sinn-Bilder für den stummen Schrei nach einem Leben jenseits des Kiez, sondern eben genau und nur das: Wut gegen die Rolle, die Requisiten, den Text und den Terror des Authentischen – ein Anrennen gegen die Wände des Klischees, zu dem man real zu werden droht. Das meint die Figuren, nicht die, die sie spielen.

Diese Grenzen ins Fließen zu bringen hätte dem Film gut getan. Dann wäre auch das lustige Schimpfwort „du Opfer!“ nicht nur ein weiteres Authentizitätsmerkmal, sondern ein ziemlich pfiffiger Subtext. „Making of Alltag“ wäre sowieso der bessere Titel gewesen. Denn Leben heißt immer auch Leben zu spielen. In Kreuzberg 36 vielleicht sogar mehr als anderswo.

TOBIAS HERING

„Alltag“. Regie: Neco Celik. Mit Florian Panzner, Neelesha BaVora, Kida Ramadan u. a. Deutschland 2002, 90 Min., ab heute im Eiszeit-Kino