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Archiv-Artikel

Der Virtuose aus der Gosse

Die Revolution verschlingt ihre Darsteller: Mit Alexandre Dumas’ Drama über den Schauspieler „Kean“ reflektiert Frank Castorf Liebe und Hass zwischen einem Theater und seinem Publikum

VON ANNE PETER

Alexander Scheer ist ein Akrobat des Schlaksigen. Ein verschwenderischer Hinschleuderer. Einer, der von seiner Rolle wie infiziert scheint. Alexander Scheer spielt Edmund Kean, nach dem Drama „Kean oder Genie und Leidenschaft“ von Alexandre Dumas. Und er spielt diesen wildlebigen Vollblutschauspieler aus dem England des frühen 19. Jahrhunderts für Frank Castorf in der Volksbühne mit der gleichen selbstausbeuterischen Verausgabung wie vor vier Jahren den Othello, den er für Stefan Pucher als Minstrel-Popstar hinrockte.

Jetzt raunt und röhrt er, meist im Duett mit Steve Binetti, ins Mikro und schlingert über die wasserfarben-grüne Halfpipe-Bühne von Hartmut Meyer. Hinten rast er die steile Wölbung hoch, vorn postiert er sich zur Publikumsansprache. Zwischendurch leert er die Augen zum aufgerissenen Burn-out-Blick. Dann wieder springt er unvermittelt aus dem Stand in den Purzelbaum. Immer ist er dabei ein Allesgeber.

Othello und Kean, bei Scheer sind das Varianten ein und desselben Startypus: des hochkatapultierten Underdogs. Der Virtuose aus der Gosse, der nicht sein darf, weil er diejenigen von Sinnen macht, deren Untergebener er sein soll, bestraft sich selbst für seinen unerhörten Ruhm. Er opfert sich fürs Publikum, das ihn kunstkonsumistisch umrauscht, ihn häppchenweise verschlingt, indem es sich von ihm allabendlich mit hingerissener Anteilnahme seine herausgespielten Seelenfetzen zum Fraß vorwerfen lässt.

Castorf zeigt das Theater, sein Theater, als Selbstzerstörungskunst. Der „Gaukler“, wie Dumas ihn nennt, ist darin Märtyrer für die Masse. Denkbar deutliche Bilder bei Castorf: Scheer wird in Kreuzigungspose in den Stacheldraht gehängt, samt Dornenkrone und Kunstblut. Das ist nicht frei von Selbstmitleid. Andererseits macht der Herr vom Rosa-Luxemburg-Platz die von außen diagnostizierte Krise seines Schaffens produktiv und rotzt lustvoll zurück: Ja, scheint dieser Abend zu sagen, wir sind vielleicht am Ende, aber ihr, die ihr uns aussaugt, habt Anteil daran. So schäumt Scheer an der Rampe gegen die Kritiker und die „Pestleichen im Zuschauerraum“, die schon Heiner Müllers Hamletdarsteller plagten.

Selbst dieser Ex-Säulenheilige der Volksbühne wird hier gründlich verlächerlicht, indem man die aberwitzigen Regieanweisungen seiner „Hamletmaschine“ ansatzweise ausbuchstabiert und die Donnersätze ausgestellt pathetisch aus dem Mund poltert. Die aufgesagte Revolution verschlingt ihre Darsteller.

An Dumas’ Künstlerdrama interessiert Castorf die Verschränkung von Schauspieler- und Sozial-Problematik, jene auch durch höchste Kunst nicht zu überbrückende Kluft zwischen Oben und Unten, zwischen Gossen-Gaukler und seinen adligen Verehrern. Während er den Protagonisten Kean bitterernst nimmt, ihn sich als Alter Ego und Chiffre des in seiner Exzessivität typischen Volksbühnen-Akteurs auf die Bühne zerrt, gibt er die ihn vampiristisch umschwirrenden High-Society-Figuren der Lächerlichkeit preis.

Silvia Rieger keift als Dekadenz-Diva im silber-seidenen Kleid ihr Gelangweiltsein heraus und zieht das „Keeean“ düpiert lang. Jeanette Spassovas Elena sänke – angesichts der herrlich versteiften Botschaftergatten-Karikatur von Axel Wandtke – gern zur Star-Geliebten herab und muss drum für urkomische Türklapp-Nummern mehrfach in den Garderobenschrank springen. Und Georg Friedrich österreichelt einen schwulen Gönner-Prinzen hin, für den der Künstler-Schützling schon mal den Schlüpfer über die Pobacke zu lüpfen hat.

Trotz alledem ist es dieses sich prostituierende Star-Sein, das sich die ausgeschlossene Menge erträumt. Sozialer Aufstieg scheint bloß noch via Casting-Show möglich – Bohlen lässt grüßen. So macht sich Mandy Rudski als Anna Damby vor Kean zum Wildschwein, klettert mit ihm zum Verführungsakt unerschrocken in den Stacheldraht und drängelt sich nebst zahlreicher Freundinnen vor Binettis Mikro. Dazwischen wimmeln die Zitate, Klassiker-Verse oder etwa Irina Kastrinidis als Nico – noch so eine Ikone des Ausgebranntseins.

Wie immer gibt es auch bei dieser fast fünfstündigen Volksbühnen-Veranstaltung einige Durststrecken, die erfreulichen Momente dazwischen waren jedoch lange nicht so zahlreich – so dass man sich wieder wünscht: Let the show go on, please!

„Kean“ wieder in der Volksbühne, 15. + 28. November