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Archiv-Artikel

Politik der zittrigen Hand

Die Grünen sind verärgert über den Kanzler. Seine Notbremse bei der Pflegereform halten sie für das falsche Signal. Der kleine Koalitionspartner fühlt sich an Schröders Politik der ruhigen Hand erinnert – und steht etwas ratlos vor einer ängstlichen SPD

AUS BERLIN JENS KÖNIGUND LUKAS WALLRAFF

Vor dem abrupten Kurswechsel des Kanzlers wurden sie nicht gefragt, von der Entscheidung haben sie erst hinterher erfahren, in der Sache finden sie den Schwenk falsch – man kann nicht sagen, dass die Grünen bei der Verschiebung der Pflegereform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag eine zentrale Rolle gespielt haben. Entsprechend verärgert sind sie, auch wenn sich alle Spitzenleute der Partei gestern Mühe gaben, den politischen Schaden, der ihrer Meinung nach entstanden ist, zu begrenzen.

„Ich will nicht öffentlich über Stilfragen reden“, sagt Parteichef Reinhard Bütikofer – und gibt damit freundlich ausweichend, aber ausreichend deutlich zu verstehen, was er von der Kommunikationspolitik des Kanzlers hält. Böse Worte spart er sich. Schließlich muss man ja irgendwie gemeinsam weitermachen.

Um die angeschlagene SPD und den Kanzler nicht weiter zu vergrätzen, gibt auch die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt den eher zarten Hinweis, es sei „immer sinnvoll, sich in der Koalition vorher zu beraten“.

Die höfliche Zurückhaltung ist aber nicht nur der grünen Disziplin geschuldet, die sie sich in fünf Jahren mit Schröder antrainiert haben. An die Solos des Kanzlers hat man sich notgedrungen längst gewöhnt. Wirklich Kopfzerbrechen bereiten den Grünen diesmal nicht die Umgangsformen. Was den Grünen ernsthaft Sorgen macht, ist die Entscheidung in der Sache – und, mehr noch, das politische Signal, das davon ausging.

Schröders Satz bei den Beratungen über die Pflegereform in der SPD-Fraktionssitzung am Dienstagabend, die Grenze der Belastbarkeit für weite Teile der Bevölkerung sei erreicht, wurde nicht nur von den Genossen in der SPD so verstanden, wie ihn der Kanzler gemeint hatte: Materiell, aber auch psychologisch sei den Bürgern im Moment nicht mehr viel zuzumuten.

Die Entscheidung, den Plan von Sozialministerin Ulla Schmidt zu kippen und Kinderlosen nicht auch noch 2,50 Euro mehr pro Monat für die Pflegeversicherung aufzudrücken, fiel kurzfristig, um nicht zu sagen übereilt. Sie wurde unter dem Eindruck sinkender Umfragewerte und zunehmenden Frusts an der SPD-Basis über den bisherigen Reformkurs getroffen. Nicht wenige Neujahrsempfänge in den Wahlkreisen der SPD-Abgeordneten seien „grausam“ gewesen, heißt es.

Besonders das Durcheinander bei der Einführung der Gesundheitsreform und die Praxisgebühr haben die Bürger verärgert. Nicht einmal 25 Prozent würden zurzeit SPD wählen. „Die zittern wegen der schlechten Umfragen“, sagt ein Spitzengrüner über die Sozialdemokraten. „Plötzlich werden sie ganz hektisch.“

Dafür haben die Grünen nur bedingt Verständnis. Sie wissen natürlich, dass sich die SPD mit sozialen Härten bei ihrer Klientel viel schwerer tut. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass man bei den Reformen „auf halbem Wege stehen bleibt“, warnt Fraktionschefin Göring-Eckardt. Sollte Schröders Signal einen Stopp jeglicher Sozialreformen bedeuten, wäre wohl auch bei den Grünen die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Bei anhaltender Tatenlosigkeit der Regierung droht die Ökopartei in den Abwärtssog der SPD zu geraten. Deshalb versucht sie den zögerlichen Kanzler anzutreiben.

„Über einzelne Instrumente bei der Reform der Pflegeversicherung kann man reden“, sagt Göring-Eckardt. „Aber das darf nicht darauf hinauslaufen, jetzt gar nichts zu machen und die Reform auf 2007 zu verschieben.“ Auch Bütikofer erinnert daran, dass die gesetzlich vorgeschriebene Mindestreserve bei der Pflegeversicherung schon 2005 unterschritten werde, „wenn es so weiterläuft, wie es jetzt läuft“. Das könne niemand wollen. Auch der Kanzler nicht, glaubt Bütikofer. Schröder habe ja „nicht gesagt, dass er in den nächsten drei Jahren nichts mehr davon wissen will“.

Bütikofer geht davon aus, dass die zuständige Ministerin Ulla Schmidt „rechtzeitig“ einen neuen Vorschlag präsentieren werde. Und wenn alles gut läuft, werden die Grünen dann ja sogar nach ihrer Meinung gefragt. Immerhin räumte auch SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler gestern ein: „Das Mannschaftsspiel ist verbesserungsfähig.“