„Israel ist amerikanischer denn je“

Früher definierte sich Israel als zionistisches Kollektiv. Hat sich das Selbstbild angesichts des nahenden Kriegs im Irak und der angespannten Situation gegenüber den Palästinensern verändert? Ein Gespräch mit dem Publizisten und Historiker Tom Segev

Interview TSAFRIR COHEN
und STEFAN REINECKE

taz: Herr Segev, was ist Postzionismus?

Tom Segev: Wenn Sie nach Tel Aviv fahren, finden Sie eine Stadt vor, die nicht ideologisch tickt. Tel Aviv ist eine hedonistische Stadt, mit Menschen, die sich nicht mehr, wie vor 30, 40 Jahren, der zionistischen Idee verschrieben haben, sondern ein gutes Leben anstreben. Neulich hat mir mein Gemüsehändler erzählt, dass er nicht zum Militär gegangen ist. Das gibt es im heutigen Israel öfters – früher wäre das undenkbar gewesen. Wer sich vom Militär befreien ließ, hätte dies nicht auch noch publik gemacht: Es wäre eine Schande, ein sozialer Makel für die gesamte Familie gewesen.

Das Wertesystem hat sich radikal verändert?

Ja, es geht um die Frage: Was nützt mir? Viele Israelis wägen ab, ob es sich für sie lohnt, drei Jahre beim Militär zu verbringen und danach jährlich für einen Monat als Reservist eingezogen zu werden. Andererseits ist der Militärdienst nötig, wenn man in Israel zur Elite gehören möchte, auch im Hightech-Bereich. Aber die Frage „Militär: ja oder nein?“ ist persönlicher Natur, nicht ideologischer. Und es ist heutzutage auch viel leichter als früher, sich vom Militär befreien zu lassen. Wer sich früher dem Militär verweigerte, galt als psychisch krank – heute heißt es lapidar, man sei „ungeeignet“ für den Dienst.

Sie diagnostizieren einen Abschied vom kollektiven Gründungsbewusstsein in Israel. Wann hat dieser Abschied begonnen?

In den 80er-Jahren. Er wurde bei den Feiern zum vierzigjährigen Bestehen Israels sichtbar. Damals war viel die Rede davon, dass die Existenz des Staates Israel gesichert ist, dass der Zionismus eigentlich gewonnen hat. Das war der Beginn des Postzionismus. Und damit ging der Abschied von dem Bild des starken, neuen Juden einher, von den zionistischen Idealbildern. Heute ist Israel eine Nuklearmacht, ungefährdet in seiner Existenz. Und in zehn, zwanzig Jahren werden die meisten Juden in Israel leben. In dem Maße, in dem der Zionismus Wirklichkeit geworden ist, verschwindet er als Traum – und als Leitidee. Ein Beispiel: Das Oberste Gericht in Israel verhandelt im Moment die Frage, ob israelische Araber Land kaufen dürfen. Die Sache ist noch nicht endgültig entschieden. Aber es gibt eine Empfehlung von Barak, dem Präsidenten des Gerichts. Sein Text ist sehr stark von US-amerikanischen Urteilen gegen die Rassentrennung und -diskriminierung beeinflusst, bis in die Wortwahl hinein.

Der neue israelische Traum sind die USA?

Ja. Israel ist heute amerikanischer denn je. Israel war zu Beginn ein fast sozialistischer Staat. Heute ist es eine stark amerikanisierte Gesellschaft, sie ist viel individualistischer geworden – und das spiegelt sich in der Debatte des Obersten Gerichts über Gleichheit und civil rights. Im Zionismus gab es kein Bewusstsein, dass Frauenrechte oder dass die Existenz von Minderheiten ein Problem sein könnten – denn wir waren ja ein Kollektiv, in dem alle gleich waren, wir waren alle Kibbuzim, alle Sozialisten. Das ist heute anders geworden. Ich glaube, dass diese Öffnung hin zu einer amerikanischen Gesellschaft auch erst den Friedensprozess von Oslo ermöglichte. Die Israelis sagten Anfang der 90er zu Rabin: Geh – und mach Frieden mit Hitler –, denn das war Arafat lange in den Augen vieler Israelis gewesen. Das war mehr als eine diplomatische Konjunktur. Es war der Ausdruck einer fundamentalen Veränderung der israelischen Gesellschaft in Richtung Friedensfähigkeit.

Das ist eine überaus optimistische Deutung. Aber was ist mit Scharon – nur eine Delle in der historischen Generallinie?

Sehen Sie, ich war vor zweieinhalb Jahren auch optimistischer. Dann ist die Lage explodiert. Das Prinzip von Oslo war richtig, das Management falsch. Arafat hat viel Geld bekommen, und es hat niemanden interessiert, ob er damit Computer oder Waffen kauft. Und Israel hat einfach weiter Siedlungen gebaut, als ob es keine Friedensgespräche gab.

Nur ganz wenige Israelis haben verstanden, dass Oslo für die überwiegende Mehrheit der Palästinenser überhaupt keine Verbesserung bedeutete. Wir haben gedacht: Der Oslo-Prozess läuft von alleine. Netanjahu und Barak haben ihre persönlichen Rechtsanwälte mit den diplomatischen Fragen beschäftigt – dieselben, die ihre Scheidung arrangieren würden. Wir haben an diese Illusion geglaubt, weil wir daran glauben wollten: Eigentlich ist alles geregelt, den Rest machen die Anwälte. In Wirklichkeit gab es eine endlose Kette handwerklicher, politischer Fehler – bis hin zu Baraks napoleonischer Idee, Arafat einen Friedensvertrag aufzuzwingen. Aber: Das Prinzip von Oslo war richtig.

Und jetzt? Welche Möglichkeiten bleiben?

Jetzt erlebt die individualisierte israelische Gesellschaft seit zweieinhalb Jahren den palästinensischen Terror. Es ist ein Terror, der auf das Individuum zielt. Und so wird er auch verstanden: Der Terror gefährdet nicht den Staat, er gefährdet mich, meine Kinder. Auch in dieser Wahrnehmung spiegelt sich das individualisierte Bewusstsein.

Dabei erscheint das Gleichheitszeichen zwischen Friedensfähigkeit und Amerikanisierung zumindest fragwürdig. Benjamin Netanjahu ist ein Gegenbeispiel – ein Politiker, der biografisch und habituell völlig amerikanisch ist, mit dem Zionismus nicht viel am Hut hat und trotzdem reaktionär ist – oder?

Netanjahu ist zynisch, pragmatisch, er ändert seine Meinung für ein Interview morgen früh in CNN. Scharon nicht. Scharon ist ein Ideologe. Das ist ein Unterschied. Aber ich sage ja nicht, dass alles, was aus den USA kommt, positiv für Israel ist. Denken Sie an die militanten Siedler, die aus New York kamen, oder an Extremisten wie Kahane.

Glauben Sie nicht, dass zur Friedensfähigkeit Israels nicht nur die Partys in Tel Aviv gehören, sondern auch das Anerkennen der Tatsache, dass man gegenüber den Palästinensern historisch schuldig geworden ist? Reicht der Postzionismus? Gehört nicht auch Kritik an der zionistischen Praxis und Geschichte dazu?

Ich glaube nicht, dass die meisten Israelis sich bewusst sind, dass der Zionismus ein Unrecht war. Aber es gibt ein gewachsenes Bewusstsein, dass er einen hohen Preis gekostet hat, dass er viel Unglück hervorgebracht hat. Für Palästinenser, aber auch für viele Juden, die aus arabischen Ländern nach Israel kamen, weil sie mussten, weil der Krieg zwischen Zionisten und Arabern sie gezwungen hat, weil sie nicht im Irak bleiben konnten.

Trotzdem: Ist der Oslo-Friedensprozess nicht auch daran gescheitert, dass Israel die „Nakba“, die Katastrophe, wie die Palästinenser ihre Vertreibung 1948 nennen, nicht als historisches Unrecht anerkennt?

Doch, ja, sicher. Aber auch dann wären das Problem des Rückkehrrechtes der Palästinenser und das Problem Jerusalem nicht gelöst. Denn man kann diese Probleme derzeit nicht lösen. Sie sind zu komplex. Das wissen wir jetzt. Aber man kann den Konflikt besser, rationaler managen, zum Beispiel indem wir einzelne Siedlungen auflösen. Das bringt nicht den Frieden. Aber eine Lage, die weniger angespannt ist. Mehr ist im Moment, wohl auch in den nächsten zehn, zwanzig Jahren nicht möglich. Die Palästinenser brauchen mehr als alles andere etwas, das sie zu verlieren haben. Die Schikanen an den Checkpoints, die Arbeitslosigkeit, die in manchen Gegenden 70 Prozent beträgt, sind keine guten Voraussetzungen für eine Friedensbereitschaft. Aber die Logik der Eskalation zu durchbrechen, ist notwendiger als alles andere – notwendiger noch, als dass die Israelis lernen, die Nakba anzuerkennen.

Hat die Linke in Israel eine Chance, dafür eine Mehrheit zu bekommen?

Keine große, solange die Bomben in den Cafés explodieren. Der Terror trifft den Einzelnen, auch den einzelnen Linksliberalen. Terrorismus zerstört in demokratischen Gesellschaften die Möglichkeit, rational zu denken, nicht nur in Israel. Aber deshalb haben die Israelis Scharon gewählt und nicht Mitzna. Mitzna repräsentiert eine kalte, rationale politische Alternative. Aber es ist keine Zeit für Ratio, sondern für Hass, Wut, auch Rassismus. Sie müssen nur die „Araber raus“-Graffiti in Jerusalem anschauen. Der Terror hat uns in die Wagenburgmentalität zurückgeworfen, das Bewusstsein, dass alle Welt gegen uns ist. Eigentlich verschwenden wir damit unsere Zeit. Denn gesellschaftlich sind wir schon weiter. Wenn Arafat, Scharon und Bush endlich verschwunden sind, dann wird das wieder sichtbar werden.

Sie sind wirklich ein Optimist …

(lacht) O.k. Aber wo ist die Frage?

Die Frage lautet: Überschätzen Sie die positiven Effekte der Individualisierung nicht?

Nein. Ich sehe durchaus die üblen Folgen im Ökonomischen und Sozialen. Israel war zu Beginn ein fast bolschewistischer Staat, danach gab es eine sozialdemokratische Phase. Jetzt ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer als in den USA. Mit der zionistischen Kollektividee ist auch viel Solidarität verloren gegangen. Wir haben zu schnell und zu weit gehend den US-Kapitalismus imitiert.

Sehen Sie die Gefahr, dass gerade eine so individualisierte Gesellschaft, die keine kollektive Idee mehr zusammenhält, gerade deshalb den Feind draußen braucht – um sich selbst zu verstehen?

Nein. Sehen Sie, ich bin kein Optimist in dem Sinne, dass ich der Prophet des Postzionismus sein will. Ich beschreibe einfach Dinge, die ich wahrnehme. Zum Beispiel, dass die Israelis nicht mehr „Schalom“ sagen, sondern „Hey“ und „Goodbye“. Und dass die hebräische Sprache durch viele amerikanische Ausdrücke reicher geworden ist, nicht ärmer.