: Das Geheimnis der Linie
Das Kupferstichkabinett zeigt mit Katharina Meldner „Spirits“ eine schöne Ausstellung mit Zeichnungen und Videos der Künstlerin, die sich seit über 30 Jahren mit der Linie beschäftigt
VON RONALD BERG
Von den 48 Geistesgrößen, die Gerhard Richter 1972 im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig zeigte, bleibt bei Katharina Meldner nicht viel übrig. Die 1943 geborene Berlinerin hat von den Porträtvorlagen nur die Umrisslinie der Köpfe übernommen. Richter hatte bei seinen Gemälden auf Lexikon-Abbildungen zurückgegriffen und sie in seinem typischen Grisaille auf die Leinwand übertragen.
Auf die bloße Kontur in Grün, Rot oder Grau reduziert, ist bei Meldner die Identität der Dichter und Denker nur noch schwer auszumachen. Zwar haben die Porträtierten ihre Physiognomie eingebüßt, aber Meldner hat ihnen mithilfe eines Episkops Zitate aus der modernen Kunstgeschichte in den Kopf gelegt. Auch diese sind in je anderer Farbe nur als Konturlinie wiedergegeben.
Doch anders als bei den sich ziemlich ähnlichen Köpfen kommen mit den Bildzitaten auf Meldners Blättern mannigfaltige Formerfindungen zum Einsatz. Dabei sind die Pinselstriche von Roy Lichtenstein, das Pissoir von Duchamp oder die Frauenfigur von Goya so charakteristisch, dass ihre Herkunft vergleichsweise leicht auszumachen ist. Die bildenden Künstler haben mit ihren Werken offensichtlich gegenüber anderen großen Denkern zumindest den Vorteil der größeren Anschaulichkeit.
„Spirits“ nennt Katharina Meldner ihre in den Jahren 2000 bis 2006 geschaffene Serie. Ironischerweise behält hier die artikulierte Form die Oberhand gegenüber dem unsichtbaren Spirit der Geistesgrößen. Doch keine Form ohne Inhalt! Zumal die Linie, der sich Katharina Meldner seit ihrem Abschied von der Malerei vor 30 Jahren ganz verschrieben hat, als Trägerin der Idee eine lange Tradition hat. Seit der italienischen Renaissance galt das disegno als Grundlage aller bildenden Künste. Denn disegno meint nicht nur Zeichnung, sondern auch Entwurf, Konzept und künstlerische Idee.
Der Zusammenhang zwischen den Porträtierten und den Kunstzitaten folgt keiner geistigen Logik, sondern der formalen Stimmigkeit. Die Abstraktion der Vorbilder bringt keine reine, der Sinnlichkeit entkleidete Geistigkeit hervor, sondern lässt die Linie als eigenständiges ästhetisches Element nur umso stärker hervortreten.
Das Kupferstichkabinett zeigt „Spirits“ als Teil der ersten großen Werkschau der Künstlerin mit Zeichnungen und einigen Videos. Anlass ist die Verleihung des vom Land Berlin vergebenen Hannah-Höch-Preises 2008 für ein „hervorragendes künstlerisches Lebenswerk“. Die Linie als Gestaltungselement benutzen fast alle Arbeiten von Meldner. In den Neunzigern stehen Strichzeichnungen noch neben flächig-ovalen Objekten aus Pastellkreide. Diese in Schwarz-Weiß-Grau gehaltenen, durchweg als Serien konzipierten Blätter verknüpfen wissenschaftliche Grafiken aus Lexika und Fachbüchern mit figuralen Szenen aus alten Comics oder Erst-Hilfe-Illustrationen. Die Stimmung ist eher düster, man denkt an Szenen des Film Noir, auch weil die Zusammenhänge wie in einem Krimi noch der Auflösung harren.
Auch die in den Achtzigern entstandenen „Wege der Ameisen“ bestehen aus Linien. Meldner hat hier weniger gezeichnet als kartografiert. Auf einem Parkplatz nahe der Avus lockte sie Ameisen mit Zuckerwasser auf ihr Zeichenblatt. Über Stunden verfolgte sie dann die Bahnen der Insekten mit dem Zeichenstift, benutzte Grau für deren Weg zur Futterstelle und Rot für den Rückweg zum Nest. Am Ende zeigen sich die Blätter als ein dichtes Gespinst von Linien, die nur die kreisrunden Futterstellen deutlich aussparen, wobei diese Markierungen auf einem der Blätter nicht nur das Sternbild des Großen Wagens abbilden, sondern am Entstehungsort auch nach der Position der Himmelsfigur ausgerichtet wurden.
Die Ähnlichkeit der Formen unterstellt einen Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, zwischen Makro- und Mikrokosmos. Vielleicht könnte ja ein allumfassender Geist, ein Spirit, sowohl die Bahnen der Sterne als auch die Wege der Insekten bestimmen. Doch solche mystische Spekulationen sind Meldner fremd. Sie spielt mit Formen, ein etwaiger Sinn ergibt sich im Geiste des Betrachters. Die Kunst Katharina Meldners besteht darin, in Formen und – wie in ihren Videos – in menschlichen Handlungsabläufen bei aller Sichtbarkeit Un-Sinn zu produzieren. Da unser Geist aber darin trainiert ist, jeder Form und jeder Handlungen einen Sinn zu unterstellen, gerät Meldners kunstvoller Un-Sinn zur sprudelnden Quelle für die Lust am Kombinieren.
Kupferstichkabinett, Kulturforum Matthäikirchplatz. Bis 8. Februar 2009