Der institutionalisierte Revolutionär

Der Tenorsaxofonist Wayne Shorter, der in diesem Jahr 70 wird, zählt zu den wichtigsten Musikern und Komponisten des modernen Jazz. Der richtige Spirit gilt ihm noch immer als eine der wichtigsten Triebfedern für eine Erneuerung des Genres

von CHRISTIAN BROECKING

Wenn Wayne Shorter vom „thrill of the moment“ spricht, dann sucht er nach etwas, das sich entschieden der Reizüberflutung und Schnelllebigkeit entgegensetzt. Im Gespräch tastet sich Shorter in freien Assoziationsketten in diese Richtung vor: Er spricht von Inhalten, die tiefer reichen als Songtexte, und von einer musikalischen Sprache, die den Kampf der Menschen reflektiere. „Substanz“ wäre dafür ein vages Synonym.

Der US-amerikanische Saxofonist, der in diesem Sommer 70 wird, ist einer der wichtigsten Musiker und Komponisten des modernen Jazz. Er war ab 1959 für mehrere Jahre Bandmitglied von Art Blakey’s Jazz Messengers und nahm in den Sechzigerjahren bei Miles Davis als Musiker und Komponist eine zentrale Rolle ein. Im Anschluss an diese Zeit gründete Shorter 1970, zusammen mit dem Keyboarder Joe Zawinul, die Jazzrock-Band Weather Report.

Shorter wuchs in New Jersey auf, der derselben Stadt wie der afroamerikanische Schriftsteller Amiri Baraka. Und dieser war es, der Shorter 1959 in der Jazzszene bekannt machte. In den Mittsechzigern zählte Baraka ihn zu jenen Musikern, die seiner Meinung nach den Sound des afroamerikanischen Fortschritts repräsentierten. Shorter selbst hat sich zu solchen Zuschreibungen selten geäußert. „Bei Weather Report haben wir früher gesagt: ‚Our music is the folk music of the future.‘ Ich hielt das immer für einen sehr positiven Slogan. Es ging dabei ja nicht darum zu behaupten, dass wir besser oder fortschrittlicher seien als andere Musiker. Sondern um den Willen, nicht hinterherzuhinken, kein Opfer mehr zu sein.“

Diese Aufbruchstimmung stand ganz unter dem Eindruck des politischen Epochenwechsels der Sechzigerjahre. Doch Wayne Shorter ist dieser Einstellung bis heute treu geblieben: „Ich habe mich immer dem Gedanken wirklicher Veränderung zugezogen gefühlt. Dieser Gedanke nach Veränderung zielt auf die Vereinigung der Menschen, nicht auf Separation und Segregation“, sagt Shorter. „Doch um diese Vereinigung zu erreichen, muss jeder selbst erst mal die Grundlage dafür bei sich selbst schaffen. Er muss selbst in und bei sich die Initiative ergreifen, damit sich das auf größerer Ebene entwickeln kann.“

Wie der Pianist Herbie Hancock, sein Freund und musikalischer Partner seit der gemeinsamen Zeit im Miles Davis Quintett, bekennt sich auch Wayne Shorter heute zum Buddhismus. In Interviews zeigt er sich gern „on a mission“. „Mich inspiriert das ganze Universum, die große Sinfonie der Welt“, sagt er. Über eine mögliche universell Frieden stiftende Wirkung von Musik macht sich Shorter aber keine Illusionen. Allein schon die Tatsache, dass Menschen eine Nationalhymne sängen und danach in den Krieg zögen, zerstört in seinen Augen jeden Gedanken daran, dass Musik die böse, wilde Bestie besiegen könne. „Musik kann Krieg nicht verhindern. Es ist allein die menschliche Bedingung, die zählt, das Wesen hinter der Musik sozusagen.“

Als Musiker möchte Shorter sich nicht in Kategorien gesperrt wissen, das würde er auch als Mensch nicht akzeptieren wollen. Er will sich nicht festlegen lassen. Für Shorter bedeutet Jazz deswegen: „this too“. Die Neugier auf das Neue sollte das treibende Element sein. Seit Jahren schon führt Shorter deswegen mit Herbie Hancock eine intensive und andauernde Diskussion. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Frage, wie sich der Jazz aus der kleinen, engen Box befreien kann, in der er seit Jahrzehnten steckt.

Shorter träumt von der Erforschung neuer Ausdrucksmöglichkeiten – von neuen, an die Kammermusik angelehnten Kompositions- und Musizierformen. Ähnlich wie Wynton Marsalis – wenn auch mit einem völlig anderen Vokabular – will Shorter das individuelle Solo des modernen Jazz stärker in das Zusammenspiel einer Band integriert wissen. Es geht hierbei aber eben nicht nur um die Präsentation der Musik, weg von den abgenutzten Soloabfolgemustern des Bebop. „Ich denke an eine Gruppe von Musikern, in der die einzelnen Mitglieder während des Spiels simultan komponieren und so eine Sensibilität und ein Bewusstsein davon entwickeln, wie sich die Musik entwickeln kann. Damit meine ich nicht ein plumpes Jammen, ein „Lass uns doch mal was zusammenspielen“. Sondern eine Initiative, die einzelnen Ensemblemitglieder gleichzeitig als Komponisten wie als Solisten zu fordern“, so Shorter.

Dass die meinungsführende Kamarilla der New Yorker Neotraditionalisten jedoch jede Erneuerung des Jazz in der Tradition eines Miles Davis nach „Bitches Brew“ aus ihrem Kanon verbannen, macht Shorter fassungslos. Der Jazz-Publizist Stanley Crouch bezeichnete Davis einst als „Waldheim des Jazz“, weil er den Jazz an den Popmarkt verraten hätte.

„Es gibt leider eine Fülle bewusster Halbinformationen, mit denen die Leute gefüttert werden, die der heutigen Jazz-Mafia folgen“, findet Shorter. Er hält die Rhetorik vom akustischen Jazz für ein bewusst herbeigeredetes Missverständnis, um damit den so genannten elektrischen Jazz auszugrenzen. Jeder Sound habe mit seiner Umgebung zu tun, und dieses Verhältnis sei Akustik, so Shorter. Aber: „Die Armee der Jazz-Mafia ist nicht nur auf einem Auge blind. Das merkt man vor allem dann, wenn man ihre Prediger hört, wie sie ihre limitierte Jazzdefinition mit politischer Rhetorik garnieren – nur um zu kaschieren, dass ihre Söldner nicht in der Lage sind, die ökonomische Ungleichheit zu überwinden.“

Dass Shorter in den Siebzigerjahren mit Weather Report zeitweilig den Status eines Popstar genoss, hat seine Gagen und Tantiemen und damit auch seinen Lebensstandard einschneidend verändert. Der ökonomische Erfolg, der davor schützt, bestimmten gesellschaftlichen Zwängen ausgeliefert zu sein, ist für Shorter eine Arbeitsbedingung, deren Bedeutung er gar nicht unterschätzen mag. Für ihn gehört es zu den tragischen Lügen über das Jazzleben, dass man arm sein und ständig ums physische Überleben kämpfen müsse, um große Kunstwerke gestalten zu können.

Seine Noten bei Kerzenschein aufs Papier zu kritzeln, auf Tourstopp in einem schäbigen Hotelzimmer oder am Rande eines Soundchecks – das alles ergebe ein romantisches, aber falsches Bild vom Musikerdasein. Eine finanzielle Grundabsicherung des kreativen Künstlers müsse gewährleistet sein. Davon allerdings sind die Realitäten oft noch immer weit entfernt. Stattdessen seien die Leute, die über Musik reden und schreiben, in den letzten Jahren wichtiger geworden als die Musiker, kritisiert Shorter. Und die Unterhaltungskonzerne natürlich, von Shorter als „Dinosaurier des 21. Jahrhunderts“ tituliert. Wenn diese Musik- und Medienkonglomerate jetzt als Folge schlechter Verkaufszahlen ihre Jazzabteilungen verkleinern oder sogar schließen, sieht Shorter darin keineswegs nur Nachteile. „Vielleicht hilft das auch, größeren Schaden zu verhindern. Wenn diese so genannten Jazz-Departments ihre Rolle weiterspielen und damit suggerieren, dass sie aktiv sind, dann nützt das ja keinem. Viele junge Musiker gründen jetzt lieber ihre eigenen Musikfirmen. Darin sehe ich die beste Inspiration für die Szene.“

Mit Blick auf das gängige Musikbusiness fragt er: „Wenn die Plattenfirmen irgendwo das Label ‚Jazz‘ oder ‚Country‘ draufkleben – was passiert da? Es degradiert den Inhalt. Übrig bleiben nur die Stereotype für den ‚Sound of Jazz‘. In den Zwanziger- bis Vierzigerjahren reflektierte der Jazz die spirituellen Bedingungen der Menschen, die ihn gemacht haben – ein Verlangen danach, wie das Leben sein könnte. Heute dagegen herrscht überall Mittelmäßigkeit. Und es gibt nur wenige, die davon nicht angesteckt sind.“

Doch Shorter hat in jüngster Zeit auch Zeichen der Veränderung ausgemacht. Besonders mit dem Aufstieg der Sängerin und Pianistin Norah Jones, die für ihr Debütalbum mit balladesken Country-Songs im New Yorker Downtown-Format gerade mit fünf Grammys überschüttet wurde, verbindet Shorter Hoffnungen. Sie drücke, wie einst Ella Fitzgerald, eine Sehnsucht nach Selbstbewusstsein, Jugendlichkeit und Mitgefühl aus, findet Shorter, sei sie doch weit entfernt von den „You better watch out!“-Formalismen im Rap, Pop und Retro-Jazz der letzten Jahre. Damit verbindet er die Hoffnung auf einen Wiedergewinn von Substanz auf musikalischem Terrain.

„Substanz“ ist überhaupt ein wesentliches Stichwort für Shorter. Schon lange ist er mit der Sängerin und Songwriterin Joni Mitchell befreundet und hat bei zahlreichen ihrer Aufnahmen mitgewirkt. Dass er pro Jahrzehnt selbst nur zwei, drei Platten unter eigenem Namen veröffentlicht, führt er nicht nur auf fehlende Nachfrage zurück. Doch da das Publikum von der Qualitätsflaute der letzten Jahre die Nase gestrichen voll habe, so sein Eindruck, sieht Shorter nun wieder Handlungsspielraum. Nach langer Pause erschien im vergangenen Jahr Shorters Quartett-CD „Footprints live!“ (Verve/Universal), für die er von der internationalen Fachpresse zum Jazzkünstler des Jahres gewählt wurde. Sein neues Studioalbum „Alegria“, mit größerem Ensemble eingespielt, folgte dieser Tage.

Anders als auf der Bühne, wo Shorter gern mal Geschichten über Außerirdische erzählt, bemüht sich Shorter im Gespräch immer wieder, die Verbindung von der Musik zum eigenem Lebensentwurf zu schlagen. Kürzlich erst hat er erfahren, dass die Großmutter seines Vaters indianischer Herkunft war – auf „Alegria“ hat er ihr nun eine Komposition gewidmet. Wenn Shorter in diesem Zusammenhang von Jazz als einem kulturellen DNA-Code spricht, dann steht bei ihm jedoch die freie Entscheidung im Vordergrund. „Man kann ihn ignorieren oder sich darauf einlassen. Vielleicht verbirgt sich dahinter ja ein grundlegendes Begehren, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen.“

Für Shorter lautet das Schlüsselwort „spirit“ – der innere Drang, etwas ganz Neues zu versuchen. Dabei mag Shorter den, nun ja, Ehrlichkeitsbonus einer Norah Jones etwas überstrapazieren und in seiner angenommenen Wirkung auf die Musikwelt überschätzen, denn eine revolutionäre Attitüde ist dem Werk der jungen Debütantin bislang kaum anzumerken. Aber so relativiert sich auch der von Shorter geforderte Rekurs auf die „Substanz“. Es geht ihm dabei schlicht um neue Wege des Dialogs, der Interaktion, ja der Freundschaft.

Jazz heiße „Keine Kategorien!“, sagt Shorter, der mit seiner Musik die Menschen dazu ermutigen will, aus dem tradierten Umfeld von Gewohnheiten, Bequemlichkeiten und schnellem Lohn auszubrechen: „Wer ausbricht, hat den Spirit des Jazz, den Spirit einer musikalischen Revolution. Und Jazz heißt, seine Chance wahrzunehmen. Ich habe deswegen das Gefühl, dass ich jedesmal, wenn ich eine Note schreibe, meine Chance wahrnehme.“

Konzerte: 21. 3. Köln, 23. 3. Wien