Im Hotel Woodstock kriegst du alles

Der Aussteiger- und Kifferstaat Christiania gilt manchen als Role Model für alternatives Leben. Die dänische Regierung möchte den Kopenhagener Stadtteil „normalisieren“. Sie stört sich am Cannabisverkauf in der Pusher Street. Doch die Kids mögen eh lieber Speed. Und sie bekommen es

AUS KOPENHAGEN HENNING KOBER

Die Augen sind seine Waffe und seine Kapital. Ohne die Pupillen zu bewegen, überblickt er die Kreuzung. Es ist kurz vor zwölf am Mittag. Feindeszeit. Aber auf der Prinsessegade sind nur ein paar Schulkinder unterwegs. Friedlich still ist es. Gefährlich friedlich still. Steen, der seinen richtigen Namen nicht sagen möchte, ist ein Profi, ein professioneller Späher. Es ist kalt. Er drückt die Hände in die Taschen seiner Armyhose. In der Jacke das Funkgerät. Dringt Polizei in sein Blickfeld, setzt er sofort einen Alarmruf ab. Dafür wird er bezahlt. Ruft er, packen die Dealer auf der Pusher Street schnell ihr Grass zusammen.

Besucher des Freistaats Christiania müssen hier am Westeingang durch ein schmales Tor. Eng vorbei an Steen. „Ich rieche unsere Feinde“, sagt er. Feinde? Hat Christiania Feinde, die Republik deren einziger Regent Love, Peace & Happiness heißen soll?

Die Frage geht an Michel Steckel, 53. Der muss es wissen, er lebt seit 1988 in Christiania und arbeitet heute im NYT-Forum, der zentralen Anlaufstelle für Fragen aller Art. Sein Büro liegt im ersten Stock eines der typischen Backsteinhäuser. An der Wand ein Holzrelief von Christiania, das von König Christian IV. Ende des 17. Jahrhunderts als Verteidigungsanlage gegen die Schweden gebaut wurde. „In den letzten zwölf Monaten hat die Polizei mehr Razzien gemacht als in den letzten zwölf Jahren“, sagt er. Schuld hat die seit November 2001 regierende konservative Regierung von Ministerpräsident Anders Fogh Rassmussen. „Die wollen uns loswerden und sich rächen, weil wir sie immer bekämpft haben“, sagt Steckel.

45 Millionen Euro hat die Regierung bereitgestellt für die Umwandlung des seit 1971 besetzt gehaltenen ehemaligen Kasernengeländes in einen „normalen“ Stadtteil. Ein städtebaulicher Wettbewerb wurde ausgeschrieben. Es hat sich kein dänischer Architekt daran beteiligt. Die Christianiter wurden nicht gefragt. „Mit einer rechten Regierung sprechen wir auch nicht“, erklärt Steckel. Es geht ums Prinzip. „In Wirklichkeit sollen hier schicke Wohnungen für Reiche gebaut werden“, poltert er. „Wir haben in Kopenhagen eine Menge Unterstützung. Wenn die Regierung wirklich Ernst machen will, bitte. Dann gibt es Bürgerkrieg in Dänemark.“

Steckel hat sich ein bisschen in Rage geredet. Er merkt es und murmelt, dass er mal eben kurz zum Bäcker laufen wolle. Sein weißhaariger Kopf tritt unten aus der Tür. Hier ist die Pusher Street. Die Schlagader Christianias. Eine der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Kopenhagens. Die Handelsware ist ein illegaler, doch längst gesellschaftsfähiger Wahrnehmungswandler für ungeduldige Seelen. Verkauft wird hier traditionell Cannabis, Marihuana, Dope, Skunk.

In der ersten Januarwoche aber hatten die Cannabishändler unter großen Medienaugen ihre berühmten Verkaufsstände selbst abgerissen. „Das Ende der Pusher Street“, hieß es. Sie wollten damit den Gegnern ihr wichtigstes Argument entziehen.

Heute spiegelt sich Normalität in den Regenpfützen zwischen den schiefen Pflastersteinen. Fast ausschließlich Männer stehen um kleine Tischchen, auf denen Grass- und Dopeproben mit Preisangaben liegen. Die Jüngeren sind in der Mehrzahl, gekleidet in tief sitzende Hosen und schwere Lederjacken. Die Älteren sind im Gesicht deutlich gezeichnet. Hunde streunen. Große Schilder verbieten das Fotografien. Aus einem Lautsprecher tönt „Sunshine Reggae“. Das passt nicht recht zur Atmosphäre. Die Blicke sind misstrauisch prüfend, die Sitten roh. Kunden und Passanten haben es eilig. Die Pusher Street ist heute ein Kiffer-Drive-in. Die aufwendig publizierte Nachricht vom Ende des Marijuanaverkaufs ist eine Lüge.

Jetzt kommt Steckel zurück. Er schüttelt sich. „Verdammt kalt heute.“ Unter seinem Arm trägt er eine Bäckertüte. Obst und Gemüseladen, Buchhandlung, Kleidermarkt, Frisör, Fahrradwerkstatt, Recyclinghof, Kindergarten, mit den Jahren sind viele Läden und Handwerksbetriebe entstanden. Sie schaffen 300 Arbeitsplätze. Für die einfachen Dinge des täglichen Bedarfs muss keiner der etwa 900 ständigen Bewohner von Christiania seinen Freistaat verlassen. Und im Sommer, wenn sich bis zu 10.000 Touristen pro Tag auf dem Gelände drängen, locken gute Umsätze auch abseits des Cannabisverkaufs.

„Wir sind ein Role Model für die alternative Welt“, sagt Steckel. Selbstverwaltung und Selbstbestimmung sowie maximale persönliche Freiheit, aber auch persönliche Verantwortung seien die von Christiania in die Welt gelebten Vorbilder. Er zeigt auf psychedelisch verzerrte Bilder an der Wand. Sie zeigen Konzerte: Bob Dylan, Alanis Morissette, Blur und die Manic Street Preachers haben hier gespielt. Das Klischee von Christiania als ewigem Woodstock wird im Freistaat nicht ungern gepflegt.

Mancherorts wie im Café Nemoland wo auch Kreditkarten das Bier bezahlen, wirkt der Geist allerdings wie frisch aus der Tiefkühltruhe. Steckels Finger mischen jetzt hastig Tabak und Grass für den ersten Joint des Tages. Es ist kurz nach eins. „Das Gute am Kiffen ist, dass man trotzdem noch arbeiten kann“, sagt er.

Obwohl etwa hundert Einwohner von Christiania, so schätzt Steckel, ihren Lebensunterhalt mit dem Grassverkauf verdienen, sieht die Mehrzahl die Pusher Street als Problem an. Die „Hells Angels“ und mehrere kleinere, von Südosteuropäern dominierte Banden kontrollieren den Handel. Die Straße duftet nach schnellem Geld und lockt deshalb viele tatsächlich kriminelle, gewalttätige Personen ins Hippieland. Dass die ansonsten so kämpferischen Christianiter leicht lethargisch deren Anwesenheit tolerieren, liegt zuerst an der eigenen Biografie. Kiffen gehört zum Leben. Steckel ist das beste Beispiel. Der Sohn einer traditionsreichen Zirkusfamilie raucht, seit er 17 ist, regelmäßig. Klar sei Kiffen eine Sucht, sagt er. Rauchen und Trinken aber auch.

Selbstverständlich ist er für die Legalisierung. Wie fast alle in Christiania. Regelmäßig organisiert die Free-Hash-Bewegung Smoke-ins. „Seit 15 Jahren hat die Polizei in Christiania keine harten Drogen gefunden“, sagt Steckel. Stolz klingt das wieder, etwas trotzig, beruhigend.

In diesem Moment explodieren unten auf der Pusher Street die ersten Tränengasbomben. Geschrei. Steine fliegen.

Polizeirazzia. Männer in Kapuzenpullover, Basecaps auf dem Kopf, kurze schwarze Schlagstöcke in der Hand, stürmen die Pusher Street. Drei Verletzte werden später ins Krankenhaus eingeliefert. Tische fallen um. Glas splittert. Vom Osteingang her rückt die erste Hundertschaft Uniformierter an. Die Pusher flüchten. Einsatzwagen rasen über die sonst autofreien alten Straßen. Mütter ziehen ihre Kinder weg.

Die Polizisten diskutieren nicht. Ihr Einsatzort ist die Pusher Street, das Café Woodstock und das Nemoland. Wer sich hier befindet, wird sofort kontrolliert und dann verhaftet oder weggeschickt. Die Polizisten durchsuchen selbst Kinderwagen. Verstecke gibt es viele. Die Straßen füllen sich mit Schaulustigen. Zwei Gesichter blinzeln etwas abseits vor dem Gemüseladen keck ins Szenario. Sie gehören Simon und Henrik (Namen geändert).

„Das dauert jetzt ein paar Stunden, wenn es dunkel wird, sind die Polizisten weg“, erklärt Henrik. Er ist 23, trägt auf seinem Kopf eine rote Paul-Frank-Mütze. Sein Freund Simon zieht schnell an einer Zigarette. Um sein Hals hängt ein vergoldetes Cannabissymbol. Seine Schultern sind breit.

„Willst du Grass kaufen“, fragt er lachend. „Oder lieber was anderes?“ Wir gehen ins Café Mondfischer. Fast alle Stühle sind besetzt. Eine dichte Rauchwolke hängt unter dem Kneipenhimmel. An der Bar sitzt Steen. Hendrik klopft ihm auf die Schulter. Wortlos folgt er ihm zu den Toiletten. Simon erzählt inzwischen seine Christiania-Geschichte, „aber nur wenn du meinen richtigen Namen nicht schreibst, sonst bist du ein toter Mann“. Also: Er ist 22, vor zwei Jahren nach Kopenhagen gekommen. Aus einem kleinen Dorf in Jütland. Aufgewachsen ist er auf einem Bauerhof. „Es gibt nichts Dümmeres als Schweine“, meint er.

Er wollte nach Christiania. Dort aber wollten sie ihn nicht. Er schildert Christiania als verkrustete Gesellschaft, in der einige Mächtige das Wort führen und sich gegen Einflüsse von außen abschotten. „Bevor jemand hierher ziehen kann, müssen alle Bewohner darüber abstimmen.“ Wohnraum ist knapp. „Von außen hier reinzukommen, ist quasi unmöglich.“

Jetzt kommt er nach Christiania, um zusammen mit seinem Freund Hendrik Speed und Ecstasy zu verkaufen. „Die Kids reißen es uns aus der Hand, das ist ihre Revolution gegen die Kiffer-Eltern.“ Dass es in Christiania nur weiche Drogen gibt? Eine schöne Legende. „Hier kannst du alles kaufen. Hast du Geld? In zehn Minuten besorg ich dir Kokain, Heroin, was du willst.“