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Archiv-Artikel

Die neue Form des Rassismus

Ein grassierender islamischer Antisemitismus in Europa ist durch Studien nicht belegbar. Doch mittlerweile werden antisemitische Stereotype auf „die Muslime“ übertragen

Das ist atemberaubend eindeutig: Einefanatische Religiosität bedroht „uns“ mit Flamme und Schwert

Es ist unverständlich, warum die Europäische Stelle zur Beobachtung des Rassismus den lesenswerten Bericht von Werner Bergmann und Juliane Wetzel über Antisemitismus in der Europäischen Union nicht veröffentlichen wollte. Vermutet wurde mehrfach, dass die Stelle ein Ergebnis zu brisant fand: Am neuen Antisemitismus seien die ansässigen „muslimischen Minderheiten“ in besonderem Maß beteiligt. Wäre das tatsächlich die Absicht gewesen, dann hätte sich die Stelle kaum dümmer anstellen können. Denn seitdem ist die These von einem speziellen muslimischen Antisemitismus en vogue. Auch in der taz. Im Dezember meinten Jan Feddersen und Philipp Gessler, dass es für Juden, die sich als solche zu erkennen geben, in den „muslimisch geprägten Stadtteilen“ von Berlin inzwischen gefährlich werden könne: „Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust scheint es für Juden in Deutschland wieder ‚No-Go-Areas‘ zu geben.“ Kürzlich schrieben Eberhard Seidel und Michael Kiefer: „In Westeuropa hat der Antisemitismus unter den Muslimen erheblich an Boden gewonnen.“

Als Beleg wurde in beiden Artikeln unter anderem auf besagte Studie verwiesen. Wenn man den Bericht jedoch liest, lassen sich solche generalisierenden Behauptungen kaum halten. Sicher wird da klar gesagt, dass auch Personen arabischer Herkunft in der ersten Hälfte 2002 für Tätlichkeiten gegen Juden in Deutschland verantwortlich waren. Allerdings steht da auch Folgendes: „Antisemitismus manifestiert sich im Beobachtungszeitraum weniger in einer gestiegenen Anzahl von tätlichen Angriffen, sondern vielmehr in einer Flut von antisemitischen Briefen an die jüdischen Gemeinden und an prominente Juden – verschickt von deutschen Staatsbürgern, die keineswegs politisch zur extremen Rechten gehören.“ Aus diesem Befund lässt sich keineswegs auf „No-Go-Areas“ schließen. Und was sind eigentlich „die Muslime“ in Westeuropa? Kann man, weil Personen arabischer Herkunft solche Angriffe begangen haben, nun auch Muslime etwa türkischer Herkunft unter Generalverdacht stellen?

In dem Bericht wird deutlich, dass die Äußerungsformen von Antisemitismus abhängig sind vom nationalen Kontext. „Die Muslime“ existieren eben einfach nicht. Und was die „erhebliche“ Zunahme von Antisemitismus betrifft, so stimmt das gemäß dem Bericht nicht einmal für Frankreich, wo die gewaltsamen Ausschreitungen weitaus gravierender waren – Ulrich Beck sprach in der Süddeutschen Zeitung sogar ernsthaft von einer „französischen Intifada“. In der Studie zitierte Untersuchungen aus Frankreich zeigen, dass die Anschläge von isolierten Personen begangen wurden, die offenbar Fernsehbilder von ohnmächtigen Palästinensern mit ihrer eigenen Situation in Frankreich in Verbindung brachten. Dass Antisemitismus in der Vorstadt verbreiteter sei als anderswo, konnten Umfragen nicht bestätigen. Die Attacken auf Juden wurden von den Migranten viel schärfer verurteilt als von Einheimischen. Freilich nahmen weit mehr Migranten an, die Juden hätten zu viel Einfluss – in Politik, Wirtschaft und Medien.

Die Ergebnisse sind also widersprüchlich. Nun soll überhaupt nicht bestritten werden, dass Antisemitismus unter Migranten verbreitet ist – zumal unter ehemaligen Linken, die mittlerweile jede Gesellschaftsanalyse gegen die Idee einer jüdisch-amerikanischen Verschwörung eingetauscht haben. Das ist gewiss keine Bagatelle. Und auch am Islamismus gibt es nichts schönzureden. Aber gibt es wirklich auch so etwas wie einen speziellen muslimischen Antisemitismus?

In ihrem Artikel, in dem Seidel und Kiefer beweisen wollten, dass eine These von Werner Schiffauer – der Antisemitismus werde von einem Antiislamismus abgelöst – falsch sei, schrieben sie, dass man hierzulande „keinen ideologisierten Wettbewerb von Minderheitengruppen“ brauche. Genau das geschieht aber, wenn man den Rassismus auseinander dividiert. Von einer Ablösung des Antisemitismus kann keine Rede sein. Mittlerweile werden antisemitische Stereotype aber auch auf „die Muslime“ übertragen. Das hatte der Soziologe Bernd Marin bereits in den Siebzigerjahren festgestellt – die Ölscheichs wurden damals als internationale, übermächtige, dekadente, fremdartige und parasitäre Kapitalistenclique porträtiert.

Seit dem 11. September 2001 ist viel von Toleranz die Rede. Doch wenn es um den Islam geht, sprechen die Bilder in den Illustrierten und im Fernsehen eine andere Sprache: Menschenmassen, Verschleierung, wütende Männer; brennende Fahnen, Karten der so genannten islamischen Welt, historische Schlachtenbilder. Das ist von atemberaubender Eindeutigkeit: Eine weltweit verbreitete, verschlossene, fanatische Religiosität, die schon seit Jahrhunderten expansive Bestrebungen hat, bedroht „uns“ mit Flamme und Schwert.

In diesem Sinne bezeichnete Étienne Balibar die neuen Formen des Rassismus als „verallgemeinerten Antisemitismus“. Besonders deutlich wird das auch an dem Buch „Die Wut und der Stolz“ der italienischen Journalistin Oriana Fallaci. Darin werden alle „islamischen Länder“ als eine Mischung zwischen „vergifteten Petrodollars“, mittelalterlicher Religiosität und eines neuen islamistischen Faschismus beschrieben. Die muslimischen Einwanderer seien die Vorhut eines Feldzugs. Deren Anwesenheit könne kein Zufall sein: „Sie sind viel zu heimtückisch, zu gut organisiert.“ Zudem, so die Autorin, „vermehren sie sich wie Ratten“ – „Sie sind überall, die neuen SS-Leute.“ Das Klischee von der Weltverschwörung ist völlig offensichtlich, und absurderweise ist diese Verschwörung nun angeblich faschistisch. Aber an den (linken) Stammtischen gilt ja auch Ariel Scharon als Faschist. Man stelle sich also ein Buch vor, in dem behauptet würde, die deutschen Juden wären die Lobby eines neuen Faschismus in Israel, der mit Hilfe der USA eine „neue Weltordnung“ errichten wolle. Wahrscheinlich würde es sofort eingestampft. Zu Recht. Fallaci dagegen schaffte es auf Platz eins der deutschen Bestsellerliste, ohne dass jemand die antisemitischen Klischees auch nur bemerkte.

Dass Antisemitismus in der Vorstadt verbreiteter sei, konnten Umfragen nicht bestätigen

Antisemitisch, so die Autoren der eingangs erwähnten Studie, seien alle Auffassungen, die Juden kollektiv verantwortlich machen für die Politik des Staats Israel. Das allerdings ist ein Denken, das in Deutschland äußerst verbreitet ist, denn Israel gilt ja immer noch als „Heimat“ der Juden. Gerade dieses Denken gilt es anzugreifen, denn solange Minderheiten in Deutschland als Gruppen gesehen werden, die eigentlich woanders hingehören, liegt die Idee von Kungeleien mit dem angeblichen Heimatland oder von „Lobbys“ immer nahe. Diesen Kampf kann man aber nicht führen, wenn man „die Muslime“ in Deutschland und in der Welt zu einer Einheit verrührt. Juden, Muslime, Migranten – sie alle sind Teil der deutschen Gesellschaft. Was auch bedeutet: Auf die eine oder andere Weise sind sie alle in den Rassismus in Deutschland verstrickt. Und den gilt es zu bekämpfen.

MARK TERKESSIDIS