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Archiv-Artikel

Zähe Suche nach dem Kern der Wahrheit

Vor dem Kammergericht geht der Prozess gegen angebliche Mitglieder der Revolutionären Zellen mit dem heutigen Verhandlungstag ins dritte Jahr. Alles dreht sich die umstrittenen Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli. Eine Chronik

1986: Als Startsignal für ihre so genannte Flüchtlingskampagne schießen die Revolutionären Zellen (RZ) dem Leiter der Berliner Ausländerpolizei, Harald Hollenberg, in die Beine.

1987: Die RZ versuchen die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) zu sprengen. Dem Asylrichter Günter Korbmacher schießen sie ins Knie.

1991: Sprengstoffanschlag der RZ auf die Siegessäule aus Protest gegen den Krieg am Golf.

1995: Zwei Jugendliche entwenden aus einem Keller in Prenzlauer Berg dort versteckten Sprengstoff. Ein Hehler verrät die beiden an die Polizei.

1998: Angeblich erst in diesem Jahr stellt das Bundeskriminalamt (BKA) fest, dass ebendieser Sprengstoff wiederholt von den RZ verwendet wurde. Der Karatelehrer Tarek Mousli wird als Mieter des Kellers ermittelt.

Mai 1999: Mousli wird wegen Sprengstoffbesitz und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verhaftet und nach einem Teilgeständnis zwei Monate später aus der Haft entlassen.

November 1999: Das BKA verhaftet Mousli erneut. Eine ehemalige Lebensgefährtin belastet ihn schwer. Der neue Vorwurf: Rädelsführerschaft in den RZ.

Dezember 1999: Mousli willigt ein, Kronzeuge zu werden, und sagt umfangreich aus. Harald Glöde, Axel Haug und Sabine Eckle werden aufgrund seiner Aussagen als angebliche RZ-Mitglieder verhaftet; der wegen des Opec-Verfahrens inhaftierte Rudolf Schindler erhält einen weiteren Haftbefehl. Etwa 1.000 Polizisten suchen im Mehringhof vergeblich nach einem Waffen- und Sprengstoffdepot der RZ.

April 2000: Der Leiter des Ausländeramtes der TU Berlin, Matthias Borgmann, wird als angebliches RZ-Mitglied verhaftet.

Mai 2000: Im kanadischen Yellowknife wird Lothar Ebke verhaftet. Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft ihm ebenfalls vor, Mitglied der RZ zu sein und verlangt seine Auslieferung.

Dezember 2000: Nach nur vier Verhandlungstagen wird der voll geständige Mousli vom Kammergericht zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Er verlässt den Gerichtssaal als freier Mann.

März 2001: Prozessbeginn im Kammergericht gegen Borgmann, Eckle, Glöde und Haug.

Mai 2001: Nach einigem juristischem Hickhack wird auch gegen Schindler zusammen mit den anderen vier Angeklagten verhandelt. Alle fünf befinden sich in Untersuchungshaft.

Juni 2001: Mousli tritt erstmals als Kronzeuge auf und belastet in den folgenden Monaten die Angeklagten. In seinen Aussagen treten immer mehr Widersprüche auf, die das Gericht aber für nebensächlich hält: „Im Kern“ sage Mousli „die Wahrheit“.

Januar 2002: Schindler bekennt sich in einer Einlassung zur Mitgliedschaft in den RZ und den Knieschüssen auf Korbmacher, widerlegt jedoch Mouslis Aussagen in vielen Punkten. Schindlers Ehefrau Eckle schließt sich seinen Ausführungen an, beide werden daraufhin aus der Untersuchungshaft entlassen.

Februar 2002: Aufgrund eines Unglücksfalls im Familienkreis wird Borgmann aus der U-Haft entlassen. Nach einer Aussage über Kontakte zur RZ in den 80ern kommt auch Haug frei.

Mai 2002: Als letzter Angeklagter verlässt Glöde die U-Haft.

Juli 2002: Die 63-jährige Rentnerin Barbara W. bekennt sich zu den Schüssen auf Hollenberg. Mousli hatte Schindler beschuldigt, obwohl Hollenberg sich klar an eine Frau erinnert hatte.

Herbst 2002: Der Prozess zieht sich mit für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbaren Auseinandersetzungen – beispielsweise um die chemische Zusammensetzung von Klebebändern – in die Länge. Die Verteidigung sucht den objektivierbaren Beweis, um Mousli der Falschaussage zu überführen.

März 2003: Heute ist der 121. Prozesstag. Ein Ende ist nicht absehbar. CHRISTOPH VILLINGER