Die allerwirrste Grafik der Welt

Einfach zum Verlieben: „Kitchen Stories“ erzählt von schrulligen Alten im norwegischen Landstad

Ein vertrackt-komischer und gleichzeitig grandios-hintersinniger Film, eingebettet in ein Norwegen im Jahrzehnt des Fortschrittglaubens, also in den Fünfzigern. Authentischer geht’s nimmer. Und doch sind die „Kitchen Stories“ von heute.

Sie kommen nah (ein flauer Ausdruck, ich wollte „Herzenssache“ schreiben, aber das wäre peinlich). Warum? Weil, auch wenn Sie nicht gerontophil veranlagt sein sollten, man diese schrulligen Alten im norwegischen Landstad lieben muss. Frl. Sowieso, die den Filmprojektor bedient, ist 76. Und die wortkargen Männer, die die Protagonisten des Films abgeben, dürften nicht viel jünger sein.

Folke also, der nur mäßig motivierte Feldforscher, wird von „Schwedens führendem Haushaltsforschungsinstitut“ (Radio Stockholm) zusammen mit anderthalbdutzend Kollegen in die norwegische Ödnis geschickt, um Bewegungsabläufe männlicher Singles in der heimischen Küche zu beobachten. Der Norweger Isak hat sich darauf eingelassen, von Schweden erforscht zu werden, weil er dafür ein Pferd bekommt. Um das Forschungsergebnis nicht zu verfälschen, ist jeder Kontakt zwischen Observierer und Proband untersagt.

Folke sitzt auf einem Hochstand in der Küche und trägt Isaks Hin und Her mit der gebotenen Genauigkeit ein. Es entsteht die allerwirrste Grafik der Welt, wie sie die Wahrheit-Seite noch nie gezeigt hat. Dem Forschungsinstitut geht es jedoch darum zu beweisen, dass nur der sofortige Kauf einer zweckmäßigen Neubauküche dem wirren Umhergelaufe abhelfen kann.

Leider lässt sich die doch aus systematischen Gründen gebotene Kontaktlosigkeit nicht durchhalten. Der Film blendet Episoden ein und aus, durch ein wenig Schwarzfilm getrennt, die einerseits die Fehlerquellen aufzeigen, andererseits heftig zu begrüßende störrische Störungen sind. Durch ein Loch im Fußboden observiert der Observierte den Observierer, der unten in der Küche allein auf dem Hochstand vor sich hin sinniert. Ja, das ist Wissenschaftskritik der averbalen Art.

Wer will, kann es als link nehmen, dass der Beobachter von seiner Tante Linné aus Råshult (Småland) ein Paket mit Heringen geschickt bekommt. Er überfrisst sich mit dem Linné-Zeug. Er kotzt. So weit der Film. Er sagt es nicht, weil sowieso fast nichts gesagt wird, aber es passt.

Dass die schwedischen Forscher sich das männliche Geschlecht vornehmen, ist kein kurioser Drehbucheinfall, sondern Basis des Linné’schen „Sexualsystems“ von 1735, das auf Unterschiede in den Geschlechtsorganen (der Pflanzen) aufbaut. Jei. Und die Grundlage dieser wissenschaftlichen Fachsprache soll noch heute gültig sein. Oha. Und funktionieren soll sie, wenn die Diagnose stimmt, nämlich die genaue Beschreibung der Habitus-Ähnlichkeit.

Tja, okay. Die „Kitchen Stories“ argumentieren nicht, sie zeigen nichts weiter als den Helden aus der Linné-Sippe, der bei der Beschreibung von Bewegungsähnlichkeit zwangsläufig scheitert und eben dadurch Mensch und zwanglos lieb und Freund wird. Im Widerstand gegen das Beobachtungssystem werden die autistischen Alten quicklebendig, machen Party, hören die tollen Schlager der Fünfziger, der Apfelbaum blüht und das alles.

Na klar, die „Kitchen Stories“ (Regie: Bent Hamer) sind ein wunderschön durchgestyltes, geriatrisches Märchen, sorgfältigst durchkomponiert, herrlich gespielt und, ja, ich sag es doch, zu Herzen gehend. Aber raffiniert ist es schon. Der galoppierende Überschwang schlägt einem den Einwand aus der Hand, dass der Film seinerseits die Beobachter und Beobachteten beobachtet, die sich gegenseitig beobachten. Denn jetzt wird evaluiert. Die systematische Haushaltsforschung kommt aus einem Land, das im letzten Weltkrieg neutral geblieben war. Kann dann der schwedische Forscher dem Norweger, der Kartoffeln kocht, vorwerfen, Atomstrom zu verwenden? Er kann es nicht: „Ihr Schweden versteht das nicht. Ihr wart im Krieg nur Beobachter“.

DIETRICH KUHLBRODT