„Immer weniger verlässlich“

Interview FRANÇOIS MISSER

taz: Wie wird der Irakkrieg die Beziehungen der USA zum Rest der Welt verändern?

Jean-Louis Terrier: Es ist gut möglich, dass die Vereinigten Staaten nach diesem Abenteuer in den Isolationismus zurückfallen, so wie 1918 nach dem Ersten Weltkrieg. Es gibt das geflügelte Wort, dass in Kriegsgebieten die Amerikaner kochen und die Europäer hinterher abwaschen, aber es sieht nicht so aus, als ob die USA auch nur das wollen. Sie wollen die „schlechten“ Verbündeten bestrafen, indem sie sie von Wiederaufbauverträgen in der Nachkriegsphase ausschließen.

Wieso rechnen Sie mit einem neuen US-Isolationismus?

Weil nach jedem gewonnenen Krieg die öffentliche Meinung der USA in diese Richtung drängt. Ich habe das Gefühl, dass die USA sich wieder ihrem Hinterhof zuwenden wollen. Der ist groß: ganz Amerika und der pazifische Raum. Der transpazifische Handel der USA ist jetzt schon größer als der transatlantische.

Warum sollte es in den USA einen Druck geben, sich vom Rest der Welt abzuschotten?

Es gibt dafür wirtschaftliche Notwendigkeiten. Die Haushalts- und Handelsbilanzdefizite der USA steigen, wenn das auswärtige Engagement des Landes wächst. Das Handelsbilanzdefizit ist im Begriff, auf 5 bis 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu klettern, und dazu wird bald ein Haushaltsdefizit in der Größenordnung von 3 Prozent kommen. Das klingt nicht nach viel, aber 6 Prozent von 10 Billionen Dollar ist eine riesige Summe, die per Kreditaufnahme aus dem Ausland gedeckt werden muss, auch wenn das in US-Dollar geschieht. Und wer wird einem Land, das in eine Ära hoher Defizite schlittert, so viel Geld zuschießen wollen?

George Bush hat den US-Kongress doch nur um zusätzliche Ausgaben von 75 Milliarden Dollar gebeten – 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Man wird sehen, wie lange das reicht. Das Haushaltsdefizit ist jedenfalls dabei, zu steigen. Neben steigenden Ausgaben besteht die Haushaltspolitik der Bush-Regierung ja auf der Einnahmenseite aus Steuersenkungen. Die ursprüngliche Idee von Ronald Reagan ist, dass durch niedrigere Steuersätze die Wirtschaft angekurbelt wird und dadurch die Steuereinnahmen steigen – eine wunderbare Lektion in Volkswirtschaft, sowas kann ein französischer Bürokrat nicht begreifen. Doch Bushs Steuersetzungen dienen weniger der Ankurbelung der Wirtschaft als einer Logik der Plutokratie. Die USA sind im Begriff, wie vor hundert Jahren ein von den Superreichen dominiertes Land zu werden – jemand wie Bill Gates besitzt so viel wie die 100 Millionen ärmsten US-Amerikaner zusammen. Die Idee dabei ist, dass die Reichsten unterstützt werden müssen, damit nach dem „trickle-down effect“ ein bisschen mehr nach unten durchsickert. Aber als Risikoanalyst muss ich auch die Reaktionen der Gesellschaft auf eine solche Politik in Betracht ziehen.

Können steigende Defizite also zu sozialer Instabilität in den USA führen?

Solange die Wirtschaft gut läuft, funktioniert der „trickle-down effect“. Das ist wie bei einem Sandhaufen: Je mehr Sand man oben hinaufwirft, desto mehr rutscht nach unten. Aber sobald es eine Rezession gibt, die Börse kriselt und die Arbeitslosigkeit steigt, kommt oben kein Sand mehr an.

Es gibt doch aber bisher keine Rezession.

Es stimmt, die Politik von Zentralbankchef Greenspan hat der Börse bei ihrem Sinkflug eine sehr weiche Landung beschert. Die Erwartungen konnten im Rhythmus der Kurse sinken. Eigentlich hätte dies eine Rezession mit sich bringen müssen, weil man uns ja sagt, dass die Hälfte der US-Amerikaner Aktien besitzen. Aber es zeigt sich, dass die Ungleichheit größer ist. 10 Prozent der US-Amerikaner besitzen 90 Prozent aller Börsenwerte. Und wenn Bill Gates ein Drittel seines Vermögens verliert, wird er nicht billigere Brötchen kaufen. Sein persönlicher Verbrauch bleibt gleich.

Also eigentlich alles bestens?

Nein! Nach dem Börsencrash ist damit zu rechnen, dass es zu Einbrüchen auf den Immobilienmärkten kommt. Und der Immobilienbesitz ist viel gleicher verteilt als der Aktienbesitz. Die Krise ist dann nicht auf Wall Street beschränkt, sondern erreicht Main Street. Jeder weiß, dass Immobilienmärkte zyklenmäßig funktionieren. Wir befinden uns im US-Immobilienmarkt am obersten Rand eines Booms und es ist unausweichlich, dass dieser endet. Wenn dazu eine Rezession kommt, landen die USA in einer ökonomischen Abwärtsspirale.

So wie Japan?

Nein, die US-Gesellschaft ist viel jünger als die japanische und wird es bleiben. Die Geburtenrate in den USA ist höher, die Einwanderungsrate auch. Aber erst seit kurzem wissen wir, dass die Auslandsschulden der USA inzwischen 9,3 Billionen Dollar betragen – 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und in sich eine unvorstellbar hohe Summe. Objektiv gesehen, dürfte eine Rating-Agentur den USA keine Bestnote mehr geben wie bisher. Dass dies nicht passiert, ist logisch, weil es die gesamte Weltwirtschaft destabilisieren würde – die USA machen 40 Prozent der weltwirtschaftlichen Leistung aus. Wissen Sie, was auf jedem Dollarschein steht?

In God We Trust.

Genau. Wer Dollars besitzt, hält keinen Anspruch auf den US-Tresor, sondern einen Glaubensanspruch. Man gibt den USA Kredit, weil man an sie glaubt. Dieser Glauben kann erschüttert werden. Der französische Soziologe Emmanuel Todd argumentiert in seinem Buch „Après l'Empire“, dass die USA gerade wegen dieser neuen Verwundbarkeit gezwungen sind, mehr militärische Macht einzusetzen.

Das heißt, die USA werden zu einer Bedrohung für die Stabilität der Weltwirtschaft?

Sie sind gezwungen, sich Legitimität zu kaufen. Nehmen wir einen anderen Zugang: das Versicherungswesen. In den USA ist jeder gegen alles versichert, gegen Windböen, Wirbelstürme, Überschwemmungen. Dazu kommt jetzt das Terrorrisiko. Was war denn der 11. September? Kein Act of God, also versicherungstechnisch höhere Gewalt, sondern ein Act of Satan, risikoanalytisch überhaupt nicht einschätzbar. Der Ökonom John Maynard Keynes definierte Risiko als objektiv schätzbare Unsicherheit. Jetzt lässt sich die Unsicherheit nicht mehr objektiv schätzen. Die Versicherbarkeit von Risiken ist damit an ihre Grenzen gestoßen. In Reaktion ruft die Versicherungsbranche nach dem Staat, damit dieser entweder die möglichen Forderungen gesetzlich begrenzt oder ab einer gewissen Summe einspringt. Dies ist sowohl in den USA wie auch in Frankreich der Fall. Wir tendieren zu einer Verstaatlichung von Risiken. Aber wie viel Risiko kann eine Regierung auf sich nehmen?

Werden die USA an diesen neuen Risiken scheitern?

Man darf nicht zu negativ denken. In den 70er-Jahren gab es in den USA mehrere schwere Wirtschaftsprobleme bis hin zu einer ausgemachten Bankenkrise. Sie haben dies problemlos überwunden. Die Amerikaner sind Pragmatiker. Sie haben gelernt, mit Krisen umzugehen. Ihr Motto ist: „Wo ein Problem ist, gibt es auch eine Lösung.“ Frankreich dagegen ist dem Prinzip des Premierministers Henri Queuille unter der 3. Republik des 19. Jahrhunderts verhaftet geblieben: „Es gibt kein Problem, das nicht durch das Vermeiden einer Entscheidung gelöst werden kann.“

Kommen wir auf Ihre Eingangsthese zurück: dass die USA isolationistischer werden könnten. Ist das eine Strategie, die neuen Risiken zu meistern?

Sie ist selbst ein Risiko – für die anderen. Die US-Abkehr vom Multilateralismus in der Weltpolitik ist sehr deutlich: Es gibt einseitige Beschlüsse über das Kioto-Klimaprotokoll, den Internationalen Strafgerichtshof, Sanktionsgesetze und so weiter. Die USA werden immer weniger berechenbar und verlässlich. Sogar der Sudan ist da weniger riskant.

Wird die Welt also insgesamt risikoreicher?

Das ist völliger Unsinn! Nach dem Ersten Weltkrieg forderte die Grippe in Europa innerhalb von drei Monaten mehr Opfer als der gesamte Krieg. Niemand weiß das heute noch. Aber heute kommt so etwas nicht mehr vor. Wie viele Leute starben im 19. Jahrhundert in Bergwerken und auf Großbaustellen? Heute ist das nicht mehr der Fall.

Also gibt es weniger Risiken?

Ja, aber die, die es gibt, werden auch weniger toleriert. Das gilt auch für Phänomene wie Korruption und Ungerechtigkeit. Es gibt nicht mehr Korruption auf der Welt als früher, sondern sie wird weniger hingenommen. Die Zahl der Geschwindigkeitsüberschreitungen im Autoverkehr steigt ja auch nicht dadurch, dass es mehr Radarfallen gibt, sondern man merkt es einfach besser. Man muss aber auch bedenken: Es gibt Risiken der Reichen und Risiken der Armen. Heute können 300.000 Leute in Bangladesch bei Überschwemmungen ertrinken, aber dann sagt die Weltöffentlichkeit nicht, die Welt sei unsicherer geworden. Denn die Bangladeschis sind ja nicht versichert, es hat keine ökonomischen Auswirkungen.