: Kritik ohne Kontext
Nicolas Berg kritisiert die „funktionalistischen“ Ansätze in der deutschen Holocaustforschung – und macht es sich dabei etwas zu leicht
VON PETER SCHÖTTLER
Die deutsche Historikerzunft kommt nicht zur Ruhe. Auf das Erdbeben des Frankfurter Historikertages von 1998 folgen immer neue Hiobsbotschaften. Kaum eine vergangene Größe der Geschichtswissenschaft, die nicht ob ihrer „Verstrickungen“ ins NS-Regime kritisiert würde. Als ob ein Tabu gefallen wäre und jetzt keine Doktoranden mehr befürchten müssten, wegen allzu kritischer Nachforschungen bestraft zu werden. Manche Professoren sprechen sogar abschätzig von „Mode“, als ob Erneuerungen in der Wissenschaft ohne Nachahmungseffekte und Übertreibungen zu haben sind. Viele Fragen, die nach 1945 versäumt wurden, sind jedenfalls noch keineswegs beantwortet.
Eine der brisantesten war und ist die nach dem Holocaust. Wann und wie haben die Historiker in der Bundesrepublik begonnen, die Umstände, das Ausmaß und die Ursachen des Judenmordes systematisch zu erforschen und der Öffentlichkeit als „Zivilisationsbruch“ zu vermitteln? Dies ist das Rahmenthema einer umfangreichen Dissertation, die kürzlich der Historiker Nicolas Berg vorgelegt hat. Unter Berufung auf Ansätze der Diskursanalyse und Kulturgeschichte versucht Berg, nicht bloß Argumentationen, sondern auch Denkstile und Verhaltensmuster zu rekonstruieren, die erklären sollen, wie und warum die Erforschung des Holocaust im engeren Sinne so lange hinter einer allgemeinen Geschichte der „braunen Diktatur“ zurückgeblieben ist.
Während die einen Hitler und seine Anhänger zu einem „Verbrecherclub“ dämonisierten – und so die breite Masse des „deutschen Volkes“ zum Opfer stilisierten, obwohl Millionen mitgemacht oder zugeschaut hatten –, begannen andere mit akribischer Quellenforschung. Sie konnten sich aber oft nicht entschließen, die Namen der Täter und ihren wichtigsten ideologischen Rückhalt, den Antisemitismus, offen auszusprechen. Der Grund ist klar: Die westdeutsche Gesellschaft der Fünfzigerjahre stand zwar unter dem Schock der Niederlage, doch es waren immer noch dieselben Menschen, die sich nun unter Aufsicht der Alliierten gleichsam selber „entnazifizieren“ sollten.
Wie wir heute wissen, war dabei viel Vertuschung und Verdrängung im Spiel; Apologie, Amnestie und Amnesie gingen Hand in Hand. Konservative Beobachter haben stets erklärt, diese Art der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) sei letztlich notwendig gewesen, um die Nachkriegsgesellschaft mit sich selbst zu versöhnen und auf den „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) zu lotsen. Andere dagegen forderten eine möglichst schnelle und schonungslose Aufarbeitung: politisch und juristisch, aber auch wissenschaftlich. Mit dem ominösen Schlagwort „Vergangenheitsbewältigung“ konnte beides umschrieben werden: das Schweigen ebenso wie das offene Aussprechen, das Abwiegeln wie das ständige Erinnern an Verbrechen und Schuld.
Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts zeichnet Berg ein breites Panorama, das von den Nachkriegsdebatten über die „deutsche Katastrophe“ (gemeint war 1945, nicht 1933!) und den Anfängen des Münchner „Instituts für Zeitgeschichte“ bis in die jüngste Gegenwart reicht. Vieles, was er zutage fördert, ist bedrückend. Dass viele historische Lehrstühle mit ehemaligen Nazis oder Mitläufern besetzt waren und auch nach 1945 wurden, ist ja bekannt. Dass aber auch die Aufarbeitung der NS-Zeit zunächst „Ehemaligen“ oblag, während frühere KZ-Häftlinge, Emigranten und Antifaschisten als „parteilich“ ausgegrenzt wurden, belegt die nahezu ungebrochene Blindheit der deutschen Universität. Daher konnten bahnbrechende Dokumentationen und Studien zum Holocaust und zum Personal, das den millionenfachen Mord plante und durchführte, zunächst nur am Rand oder außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entstehen.
Mit Recht stellt Berg die Pionierrolle von Joseph Wulf (1912–1974) heraus, der es sich nach seiner Rückkehr aus Auschwitz zur Aufgabe machte, nicht bloß die Taten, sondern eben auch die Namen der Täter zu dokumentieren. Das empört die etablierten Historiker. Wulfs Dokumentarstil galt als denunziatorisch. Als er 1961 den ehemaligen „Stadtarzt“ von Warschau, Wilhelm Hagen, der es zum Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes gebracht hatte, als „Helfershelfer“ darstellte, kam es zum Prozess, und die entsprechenden Seiten mussten geschwärzt werden.
Dieser Fall ist exemplarisch, da sich aus Akten des Instituts für Zeitgeschichte rekonstruieren lässt, dass ausgerechnet Martin Broszat, ein prominenter Mitarbeiter und späterer Institutsdirektor, Hagen unterstützte. Von Wulf distanzierte er sich und warf ihm vor, immer nur nach „Belastungsmaterial“ zu suchen. Dabei hatte es Wulf lediglich gewagt, wie Berg schreibt, „das reale Verhalten Hagens vor Ort und nicht das ‚eigentliche‘ Wollen oder gar die rückwirkende Erklärung zur Grundlage seiner Bewertung zu machen“.
Hier deutet sich die besondere Brisanz des Buchs an: Für Berg waren viele, ja die meisten westdeutschen Historiker und nicht zuletzt die Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte einem Diskurs der Objektivität verfallen – sie selbst sprachen vom „Pathos der Nüchternheit“ – , der sie dazu verleitete, prinzipiell allen Archivalien und manchmal auch den sachlichen Aussagen der Täter eher zu glauben als den Erinnerungen der jüdischen Opfer. Nicht die Intentionen der Täter seien ausschlaggebend gewesen, sondern quasi-anonyme Strukturen und Prozesse. Daraus ergibt sich Bergs zugespitzte These: der als „Strukturalismus“ oder „Funktionalismus“ bezeichnete Ansatz der Holocaust-Forschung verdanke sich letzten Endes einem „Geist der Apologie“. Manche dieser Darstellungen seien gleichsam aus der „Perspektive der Mitläufer“ verfasst worden. Sogar ein kritischer Historiker wie Hans Mommsen stehe mit seiner These von der kumulativen Radikalisierung der Judenverfolgungen in dieser problematischen Kontinuität.
Das ist nun freilich selbst eine durch und durch „funktionalistische“ Argumentation, die von allen Intentionen – in diesem Fall der Historiker – abstrahiert. Obwohl Berg dafür plädiert, Wissenschaft und Erinnerung nicht gegeneinander auszuspielen, sitzt er am Ende selbst einer Konstruktion auf, die mit den realen Kämpfen innerhalb der Holocaust-Geschichtsschreibung kaum etwas zu tun hat. Hier rächt sich der rein ideengeschichtliche Ansatz seines Buchs und die Beschränkung auf ausgewählte Autoren. Denn von einer Diskurs- und Erinnerungsgeschichte hätte man sich eine breitere Untersuchung der Nachkriegswissenschaft und vielleicht sogar einen quantitativen Überblick darüber erwartet, wer damals NS-Forschung betrieb oder förderte.
Damit wären noch ganz andere Widerstände und Frontlinien sichtbar geworden, kurzum Kontexte, aus denen sich der Wandel der konkurrierenden Interpretationsansätze konkreter verstehen ließe. Denn diese Ansätze hatten eine eigene Konfliktgeschichte, die bei Berg auch dadurch aus dem Blick gerät, dass er sich mit den „intentionalistischen“ oder gar „negationistischen“ Ansätzen gar nicht weiter abgibt: So ist etwa vom „Historikerstreit“ oder von Ernst Nolte fast nicht die Rede. Und eine rechtsradikale Geschichtspropaganda scheint es für Berg auch nicht zu geben. Dadurch gerät seine Darstellung in eine Schieflage, denn das Pathos der Wissenschaftlichkeit, das er den Funktionalisten vorwirft, war nicht zuletzt gegen diese realexistierenden Verharmloser und Apologeten gerichtet.
Nicolas Berg: „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung“. Wallstein, Göttingen 2003, 766 Seiten, 46 Euro