: „Jedem Arbeitslosen eine Chance“
Interview ULRIKE HERRMANNund HEIDE OESTREICH
taz: Die Basis beschert Ihnen einen Sonderparteitag zum Thema Sozialpolitik. Verstehen Sie, warum?
Fritz Kuhn: In der Partei gibt es großen Diskussionsbedarf, das ist in Ordnung. Man muss aber einen solchen Parteitag natürlich auch gemeinsam bestehen. Er darf die Grünen nicht zersägen. Aber aus den Diskussionen vor Ort weiß ich, dass die Partei nicht einfach gegen Reform ist.
Die Basis ist aber dagegen, dass die Fraktion eigenmächtig Maßnahmen verabschiedet, die im Wahlprogramm ganz anders standen. Die Kürzung der Arbeitslosenhilfe etwa hatten die Grünen bisher ausgeschlossen.
Ehe man Einzelmaßnahmen kritisiert, sollte man sich das Gesamtkonzept der Agenda 2010 ansehen. Es geht darum, dass mehr in Arbeit investiert wird. Dazu müssen wir die Lohnnebenkosten massiv senken. Außerdem muss es für die Arbeitslosen neue Angebote geben. Das Gesamtkonzept leistet mehr als die Summe seiner Teile.
Die Arbeitslosenhilfe etwa ist steuerfinanziert. Sie zu kürzen, senkt die Lohnnebenkosten überhaupt nicht. Es sieht eher so aus, als würde der Bundeshaushalt zu Lasten der Schwächsten saniert.
Diese Einschätzugen teile ich nicht. Es geht um die Solidarität der Beschäftigten mit denen, die keine Arbeit haben. Entscheidend ist doch, dass man zur neuen Arbeitslosenhilfe, dem Arbeitslosengeld II, hinzuverdienen kann; 50 Prozent soll man behalten können.
Diese Zuverdienst-Jobs fehlen, ganz besonders in Ostdeutschland.
Schon deshalb dürfen die Beschäftigungsinitiativen nicht zerschlagen werden. Die Bundesanstalt für Arbeit, aber auch die Länder und Gemeinden dürfen sich aus dieser Aufgabe nicht verabschieden. Wir sind im Übergang zu neuen Strukturen. Solange das neue Haus nicht steht, dürfen wir die Leute nicht einfach ausquartieren.
Aber wie sollen die Arbeitsämter ABM und Weiterbildung finanzieren? Der Bundeszuschuss wurde ja gestrichen. Im letzten Jahr betrug er noch 5,6 Milliarden Euro – bei weniger Arbeitslosen.
Die Bundesregierung muss eine Finanzierung der Beschäftigungsinitiativen finden, bis die neue Struktur greift.
Und wie viele Milliarden fordern Sie konkret von Finanzminister Eichel?
Für das ganze Jahr kann man das noch nicht sagen. Allein der Irakkrieg birgt unkalkulierbare Risiken.
ABM und Weiterbildungsmaßnahmen bringen keine fünf Millionen Arbeitslose in neue Jobs.
Auch die Unternehmen sind zu fordern. Durch die Personal-Service-Agenturen werden viele Leiharbeiter zur Verfügung stehen. Das heißt: Es gibt keinen Grund mehr, nur mittels Überstunden zu expandieren; Firmen müssen dann auch Leiharbeiter einstellen.
Wollen Sie Überstunden gesetzlich einschränken?
Es muss einen Konsens darüber geben, dass man wachsendes Arbeitsvolumen durch Leiharbeit ausgleicht. Das ist eine Frage der Solidarität, aber auch der wirtschaftlichen Vernunft.
Vermittelt wird künftig nur, wer als erwerbsfähig gilt. Wer soll das sein?
In der Kommission des Wirtschaftsministeriums gehen wir davon aus, dass alle, die drei Stunden am Tag arbeiten können, als erwerbsfähig gelten.
Also ist der 55-Jährige weiterhin auf dem Markt?
Ja, und der muss auch vermittelt werden. Man muss den Unternehmern generell klar machen, dass sie nicht nur die jungen Mitarbeiter maximal ausbeuten können und die Älteren, die Auszubildenden und die Arbeitslosen außen vor lassen.
Wenn Sie die Sozialauswahl beim Kündigungsschutz lockern, werden aber genau die älteren Arbeitnehmer wieder gefährdet, die Sie per Appell in den Firmen halten wollen.
Das stimmt nicht. Wichtig aber ist, dass eine neue Kultur entsteht: zum Beispiel bei der Altersteilzeit.
Sie reden von Kultur, aber die älteren Arbeitslosen müssen mit realen Einbußen rechnen, wenn Sie die Laufzeit des Arbeitslosengelds auf 18 Monate verkürzen.
Die heutige Laufzeit von 32 Monaten wurde doch von den Unternehmen nur ausgenutzt, um ihre Mitarbeiter früher loszuwerden. Das war ein Fehlanreiz, der die Lohnnebenkosten steigen ließ.
Wenn man alle Ihre Ideen zusammenrechnet, dann kommen höchstens 400.000 Vollzeitjobs heraus, die meisten im zweiten Arbeitsmarkt.
Wenn wir die Lohnnebenkosten massiv senken, dann schaffen wir viel mehr Arbeitsplätze. Hohe Lohnnebenkosten treiben die Menschen in die Schwarzarbeit. Eine Handwerkerstunde kostet vierzig Euro. Die muss man netto verdienen, um sie sich leisten zu können.
Selbst Optimisten gehen davon aus, dass ein Prozent weniger Sozialabgaben höchstens 100.000 weitere Stellen hervorbringt.
Das Gesamtkonzept wird mehr bringen als die bloße Addition dieser Schubladen. Zudem wird unsere Steuerreform den Mittelstand zu Investitionen anregen.
Die Großunternehmen sind schon massiv steuerlich entlastet worden. Dennoch bauen die Konzerne weiter Arbeitsplätze ab.
Die Steuerreform 2004/05 stärkt den Konsum der Leute und auch die Investitionen des Mittelstands. Wir haben durch die Körperschaftssteuerreform im Übrigen mehr ausländische Investitionen angezogen.
Meist wurden nur deutsche Firmen aufgekauft – das schafft keine Arbeitsplätze. Warum sollten Firmen auch in neue Produkte investieren, wenn in Deutschland die Binnennachfrage lahmt?
Durch die Steuerreform werden die Leute mehr Geld haben. Der Spitzensteuersatz sinkt von 48,5 auf 42 Prozent und der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Das bedeutet ab 2005 eine jährliche Entlastung von 25 Milliarden Euro.
Sie entlasten vor allem die Gutverdienenden. Die Nachfrage wird jedoch angekurbelt, indem die Massenkaufkraft steigt. Müssten Sie nicht vor allem die niedrigen Einkommen päppeln?
Falsch. Wir entlasten auch und gerade die kleinen Einkommen. Hinzu kommt, dass wir in Deutschland nur durch Innovationen neue Arbeitsplätze schaffen können. Eine Innovationsstrategie heißt: weg vom Öl. Mit neuen Technologien in Verkehr und Energie Schritt für Schritt unabhängig von diesem knappen und gefährlichen Rohstoff. So entstehen High-Tech-Arbeitsplätze. Ein weiteres Feld wäre der Markt der Dienstleistungen für Senioren.
Trotz dieser Visionen bleibt bei manchen Grünen der Eindruck zurück, dass das Gesamtpaket unausgewogen ist. Die Spitzenverdiener werden entlastet, und bei den Arbeitslosen wird gekürzt.
Dieser Eindruck ist falsch. Wie gesagt: Jeder Erwerbsfähige soll eine Chance auf Beschäftigung und Weiterbildung bekommen.
Fünf Millionen Arbeitslose – und Sie glauben weiter an die Vollbeschäftigung?
Ich glaube an den Abbau der Arbeitslosigkeit. Im Weinbau gibt es den Begriff des skeptischen Optimisten. Bis zum September muss der Weinbauer davon ausgehen, dass es ein guter Jahrgang wird: sonst schafft er es nicht, sich vierzehnmal um den einzelnen Rebstock zu kümmern. Er muss aber skeptisch bleiben: Falsches Wetter im September kann den schönsten Jahrgang verderben.