Eine Stadt – zwei Nationen

Bis 1945 lag an der mittleren Lausitzer Neiße nur eine größere Stadt: Görlitz. Die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg trennte Görlitz von seinem östlich der Neiße gelegenen Teil und damit von einem Drittel seiner Bevölkerung. Das jenseits der Neiße gelegene Görlitz wurde zum polnischen Zgorzelec.

Die Oder-Neiße-Grenze ist die entlang der Flüsse Oder und Neiße verlaufende östliche Grenze Deutschlands zu Polen. Sie wurde im Rahmen des Potsdamer Abkommens am 2. August 1945 von den Alliierten „bis zum Abschluss eines endgültigen Friedensvertrages“ festgelegt – und mit dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 bekräftigt. Bis heute wird die Legitimität dieser Linie von nationalistischen Kreisen bestritten.

Das von der EU initiierte Projekt der Euroregionen versucht, die Widersinnigkeit staatlicher Grenzen zu überwinden, indem es grenzüberschreitende Regionalprojekte in kulturell und wirtschaftlich zusammenhängenden Gebieten fördert. Für das Zusammenwachsen der Region um Görlitz und Zgorzelec wurde am 21. Dezember 1991 die Euroregion Neiße-Nisa-Nysa gegründet. Sie integriert deutsche, tschechische und polnische Gebiete. Görlitz und Zgorzelec verdanken dem Projekt beispielsweise die Finanzierung des geplanten Neubaus ihrer Altstadtbrücke.

Im Jahr 2004 soll Polen im Rahmen der Osterweiterung in die EU aufgenommen werden. Der Großteil der Görlitzer äußert darüber seine Zufriedenheit. Auch die Zgorzelecer geben sich entgegen der eher euroskeptischen Haltung in Polen in der Hauptsache optimistisch.

Die Kulturförderung in Görlitz wurde seit 1989 bombastisch aufgestockt. Über verschiedene Förderprogramme der EU und des Bundes wie das Projekt „Modellstadt der Städtebauförderung“, das „Infrastrukturprogramm“ und das „Substanzerhaltungsprogramm“ flossen genügend Geldmittel, um eine großflächige Sanierung der historischen Altstadt durchzuführen. Seither hat sich Görlitz im harten Konkurrenzkampf vieler Mitbewerber den inoffiziellen Titel der „schönsten Stadt Deutschlands“ zugelegt.

Seit 1998 nennen sich Görlitz und Zgorcelec gemeinsam Europastadt. Konkret bedeutet dies eine Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen. Beispiele: Im deutsch-polnischen Kindergarten „Zwergenhaus“ wachsen Mädchen und Jungen aus beiden Teilen der Stadt gemeinsam auf. Seit 2002 werden je fünfzehn deutsche und polnische Schüler am Gymnasium „Annenschule“ in einer bilingualen Klasse unterrichtet. Für 2010 haben sich beide Städte zusammen als Kulturhauptstadt Europas beworben. Die Bereitschaft der Görlitzer, Polnisch zu lernen, ist übrigens in den vergangenen fünf Jahren sprunghaft gestiegen. Die Polnischkurse der Volkshochschule Görlitz sind regelmäßig ausgebucht.

Nach der Wende setzte in Görlitz zunächst eine starke Westflucht ein, die inzwischen etwas abgeebbt ist. 1991 verlor die Stadt 2.100 Einwohner, 2002 nur noch neunhundert. Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen drei Jahren wieder angestiegen und liegt derzeit bei bei 24,1 Prozent. Der durchschnittliche Görlitzer verdient 820 Euro netto im Monat – 610 Euro unter dem Bundesdurchschnitt. In Zgorzelec beträgt der durchschnittliche Bruttoverdienst 315 Euro – für polnische Verhältnisse relativ viel.

THOMAS THIEL