: Vom Wirrwarr der Beine
Waren Tische im Mittelalter aus rohen Brettern zusammengezimmerte Tafeln, verfeinerten sie sich später zu üppig verzierten Objekten. Doch erst im 20. Jahrhundert wurden Tische populärer, die nicht mehr unbedingt auf vier Beinen stehen mussten
von MICHAEL KASISKE
„Das Eselchen“ nannte meine Bekannte Marion ihren kleinen Arbeitstisch, auf dem sich außer für den Laptop gerade noch Platz für ein DIN-A4-Blatt fand. Fürwahr eine treffende Bezeichnung, dieses Möbel ist schließlich ein gleichmütiger Träger, der seine Bedeutung erst durch das erhält, was an ihm stattfindet. Ob es das Potsdamer Abkommen war, das auf einem ausladenden Monstrum im Potsdamer Cäcilienhof geschlossen wurde, oder jenes auf zwei Holzböcken liegende Türblatt, auf dem Diplom- oder die Magisterarbeiten erstellt wurden – Tische „saugen“ die Geschichten ihrer Benutzer auf.
Dabei ist die Gestaltung von Tischen nur scheinbar unabhängig vom Gebrauch. In der von Bildern bestimmten Gegenwart spielt die Ausstattung jedenfalls eine entscheidende Rolle. Dass Staatschefs ihre Verträge an einem unregelmäßig geformten Tisch abzeichnen, wird daher ebenso wenig vorkommen wie eine Neujahrsansprache vom Bundeskanzler an einer überbordenden Barocktafel. Wo die Ersten mit einer eindeutigen und bekannten Form Vertrauen signalisieren wollten, so will der Zweite mit der Platzierung am schlichten Schreibtisch Werte wie Seriosität und Ernsthaftigkeit vermitteln.
Auch wenn diese Objekte in der Regel unauffällig wirken, werden sie sich doch retrospektiv anhand von Material, Proportion und gestalterischen Details zeitlich genau einordnen lassen. Wie Stühle sind Tische Meilensteine der Designgeschichte: Aus rohen Brettern zusammengefügte Tafeln im Mittelalter verfeinerten sich durch die Jahrhunderte zu den üppig verzierten Objekten im Rokoko, um mit der Aufklärung wieder auf die schlichte Erscheinung des Biedermeier reduziert zu werden.
Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hatte der geläufige Tisch vier Beine. Eine Ausnahme bilden die Modelle mit Gestellen aus gebogenem Buchenholz, die von Michael Thonet ab 1850 entworfen wurden; sie entwickelten freilich nicht annähernd eine solche Popularität wie der Kaffeehausstuhl. Abgesehen von den kleinen Café-Tischen – stets in stabiler Lage durch einen schweren Eisenfuß – kamen erst rund hundert Jahre später die ersten größeren Tische mit dem „Trompetenfuß“ auf den Markt. In der dynamischen Formensprache der Nachkriegszeit entwickelte der Amerikaner Eero Saarinen, bekannt geworden durch den TWA-Terminal auf dem New Yorker JFK-Airport, einen einbeinigen Tisch passend zu dem Stuhl mit dem Namen „Tulpe“. Lapidar erklärte der Architekt: „Ich wollte mit dem Wirrwarr der Beine aufräumen.“
In den 1960er-Jahren folgten schließlich Experimente mit Kunststoffen. Zu jedem der berühmten Kunststoffstühle – etwa zum „Bofinger“ von Helmut Bätzner von 1966 oder zur „Selene“ von Vico Magistretti 1968 – wurden die passenden Tische entwickelt. Warum wird ihnen im Gegensatz zum Sitzgerät keine größere Aufmerksamkeit gewidmet? Wahrscheinlich erliegen die meisten Betrachter der irrigen Annahme, Tische sähen ohnehin immer gleich aus. Eine Zusammenfassung der Genese von Tischformen wäre allerdings durchaus lohnend. Viel mehr noch als in jedem anderen Möbel spiegeln sich in ihnen die gesellschaftlichen Konventionen von Kommunikation und Nutzung wieder.
Eine häufig müßige Diskussion entbrennt an der Frage nach runder, viereckiger oder asymmetrischer Tischplatte. Sicher, am runden Tisch sind alle gleichberechtigt positioniert – dumm dran ist trotzdem derjenige, welcher der Küchentür am nächsten sitzt; dafür sitzt man am viereckigen Tisch Aug’ in Aug’, was sich positiv auf die Intensität einer Unterhaltung auswirken kann. Wie asymmetrische Tische die zwischenmenschliche Interaktion beeinflussen, ist dagegen noch nicht bekannt.
Im Gegensatz zum ständigen Gebrauch steht das Zögern bei der Bewertung von Tischformen, die sich wohl aus der Unsicherheit bei der Auswahl erklärt. Kerstin, eine weitere Freundin, etwa hat festgestellt, dass sie sich zwar für Stühle entscheiden kann, wohingegen sich die Tische bislang immer für sie entschieden haben – sei es, dass ein Arbeitstisch zum Esstisch umfunktioniert wurde, sei es, dass durch Schenkung Stücke aus anderen Haushalten kamen, an denen schon persönliche Geschichten rankten. Gemeinsam ist beiden Wegen die Zuneigung zum Werdegang des Gegenstands. Wobei nicht immer wichtig ist, diesen zu kennen. Manchmal reicht es, vom Vorhandensein einer Vergangenheit zu wissen. So war der Nachfolger von Marions „Eselchen“ an einer Amsterdamer Gracht anonym abgestellt worden. Seine Ausstrahlung faszinierte so, dass Marion das Stück nach Haus transportierte. Dort polierte sie die Holzelemente auf und versah die Tischplatte mit einer Kunstlederoberfläche, wodurch der Tisch sich vom demolierten Schrott in ein veritables „Objet-Trouvé“ wandelte.
Womit einmal mehr bewiesen ist, dass Tische nicht nur Orte sind, an denen Geschichten erzählt werden, sondern sie selbst Geschichte schreiben. Was ihnen nicht immer unmittelbar anzusehen ist. Die Kapitulationserklärung Deutschlands wurde 1945, wie im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst zu sehen ist, an einem denkbar unscheinbaren Tisch unterzeichnet. Was wohl aus dem „Eselchen“ wird, das in einem Fahrradraum in der Keizersgracht auf eine neue Umgebung wartet?
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