: Schande verloren
Hertha BSC ist endlich im Abstiegskampf angekommen – und schlägt den Ex-Tabellenzweiten Stuttgart mit 1:0
BERLIN taz ■ Als die neue Woche begann, war tatsächlich alles anders in der großen Stadt, oder doch zumindest vieles: Die Hauptstadt-Menschen schlagen die Mantelkragen wieder hoch bis über die Ohren, weil der Winter zurückgekehrt ist und mit ihm die Kälte. Die Hauptstadt-Kinder müssen morgens wieder früh aufstehen und in die Schule, die Ferien sind schließlich vorbei. Und selbst für den Hauptstadtkanzler haben sich die Dinge gedreht, auch wenn das eher ein Thema für die Kollegen aus der Politik ist. All das hat Hans Meyer ohnehin nicht gemeint, als er am Sonntagabend mit warmem Blick und spürbarer Vorfreude den Verlauf der heranbrechenden Tage skizzierte und dabei auch für sich und seine Hertha Änderungen im Drehbuch reklamierte. „Ich freue mich für die Jungs“, sagte der Hauptstadttrainer jedenfalls. „Die kommen in dieser Woche mit einer ganz anderen Einstellung zum Training. Für unsere Arbeit ist das schon eine angenehme Sache.“
Warum das so ist, konnte man anderntags, also am Montag, bereits in den Schlagzeilen der bunten Hauptstadt-Blätter lesen: „Hertha lebt wieder!“, titelte Bild, „Bobic rettet Hertha“, schlagzeilte die B.Z., „Hertha lebt“, senfte auch der Kurier dazu. Meyer liest diese Blätter nicht, aber er weiß, dass seine Jungs sie lesen. Und er weiß, dass es gut für seine Jungs ist, dass sie die nächsten Tage nicht als „die Hauptstadtschande“ verleben müssen, so wie nach dem 0:4 in Bremen vor Wochenfrist. Diese Woche sind sie keine Versager, Verlierer, Absteiger. Diese Woche sind sie, endlich einmal, famose Kämpfer, wackere Recken, strahlende Sieger. Und dass es ausgerechnet der VfB Stuttgart war, den sie da mit 1:0 besiegt hatten, den Tabellenzweiten und Champions-League-Achtelfinal-Teilnehmer, macht das gute Gefühl nicht kleiner. Es könnte also wirklich eine nette Woche werden für Hans Meyer und seine Jungs, die zwar immer noch Tabellenletzter sind, aber zusammen mit den drei Punkten vom Sonntag noch etwas ganz anderes, mindestens ebenso Wertvolles, gewonnen haben: Hoffnung nämlich.
Sie haben sich die Hoffnung verdient, daran kann es keinen Zweifel geben. Vor allem aber haben sie sich diese erkämpft. Denn Hertha hat gegen Stuttgart nicht gewonnen, weil sie den besseren Fußball spielte, sondern, vor allem, weil sie mehr Einsatz zeigte, mehr Wille. „Die Mannschaft hat diszipliniert gespielt und mit Herz nach vorne“, fand hernach Dieter Hoeneß, der Manager. „Wir haben es heute selbst in die Hand genommen“, lobte Trainer Meyer. Und selbst von Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer ließ sie es sich aus dieser nicht mehr nehmen: Nach zehn Minuten erkannte er einen Hertha-Treffer von Zecke Neuendorf nicht an, weil er diesen fälschlicherweise im Abseits gesehen hatte. Nach 87 Minuten erklärte er ein Kopfballtor des eingewechselten Madlung für ungültig, weil er den vorangegangenen Freistoß durch Marcelinho angeblich noch nicht zum Abschuss freigegeben hatte. Einer Mannschaft am Tabellenende können solche Dinge das Genick brechen – Hertha haben sie am Sonntag nur noch mehr angestachelt, provoziert geradezu, beim Siegtreffer gleich nach Aberkennung des zweiten Tores konnte man das sehen: Marcelinho legte sich den Ball an selbiger Stelle in selbiger Minute erneut zum Freistoß zurecht, trat ihn wieder scharf nach innen, fand wieder den Kopf eines Mitspielers, den von Bobic – und diesmal zählte der Treffer sogar. Danach bildeten sich auf dem Rasen zwei weiße Häuflein. Hertha jubelte. Hertha lebte.
Hertha hatte sich das verdient, und sogar Felix Magath fand das. „Wir haben einfach nicht genügend getan, um bei einem Gegner, der angeschlagen ist, zu punkten“, analysierte der VfB-Trainer und fasste zusammen: „Nicht wir waren die Aktiven, sondern die.“ Ganz überraschend scheint das für Magath nicht gekommen zu sein, schon am Donnerstag habe er seiner Mannschaft, die ohne Neuzugang Hakan Yakin antrat, mitgeteilt, dass er bei ihr derzeit den „richtigen Siegeswillen“ vermisse. Dafür verantwortlich macht er „allgemeine Strömungen“ im Verein, in der Mannschaft und selbst bei den Fans: eine „zu große Euphorie“ für seinen Geschmack. „Es ist so, dass manche glauben, wenn man vorne steht, geht es von alleine“, sagt der VfB-Trainer. Nun hofft er, dass die Partie in Berlin das Gegenteil bewiesen hat. „Wenn wir uns an die eigene Nase fassen und das erkennen, dann ist das gut“, sprach Magath, der das Wort „Meisterschaft“ nach Eigenauskunft ohnehin noch nie in den Mund genommen hat, „weil das nicht unser Ziel ist“.
Auch in Berlin haben sie nach wie vor ein ganz anderes Ziel als den Gewinn der Schale. Zumindest den Weg zu diesem könnte die Partie vom Sonntag gewiesen haben, jedenfalls hofft das Manager Hoeneß. Der will erkannt haben: „Die Mannschaft hat gesehen, dass und wie es geht.“ Eben mit Einsatz und Leidenschaft und, vor allem: Kampf, schließlich heißt Fußball im Tabellenkeller nicht Abstiegsspiel. Dass das am Sonntag vor allem zwei Youngster sowie ein Neuzugang vorexerzierten – der 20-jährige Sofian Chahed nämlich, der in seiner ersten Bundesligapartie VfB-Spielgestalter Alexander Hleb ausschaltete, sowie der gleichaltrige Malik Fathi und der aus Dortmund transferierte Giuseppe Reina –, bezeichnete Trainer Hans Meyer schlicht als „Glücksgriff“. Seit Sonntag, so die Botschaft, hat Hertha sogar wieder Glück. Zumindest eine Woche lang. FRANK KETTERER