: Der flexible Einstieg
Baden-Württemberg gibt Schulanfängern die Möglichkeit, in altersgemischten Gruppen zu lernen. Nach ihren individuellen Fähigkeiten
AUS MANNHEIM SUSANNE AMANN
Die Zukunft sucht sich manchmal seltsame Orte. Orte wie etwa Neuhermsheim, einen Stadtteil im badischen Mannheim. Hierher muss man kommen, in einen unspektakulären Betonbau, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie Schule in Zukunft aussehen könnte.
Dienstagmorgen, Viertel vor acht. Draußen ist es noch nicht richtig hell, aber das scheint die Kinder nicht zu stören, die an der Tür der Johann-Peter-Hebel-Schule ihre Hausschuhe anziehen, um dann in ihre Klassenräume zu marschieren. So machen das auch hunderttausend andere Grundschüler in Deutschland. Die Hebel-Schule allerdings ist anders.
Sie gehört zu 75 Schulen in Baden-Württemberg, die sich seit dem Schuljahr 1997/98 am „Schulanfang auf neuen Wegen“ beteiligen. Dabei werden die Klassenstufen eins und zwei in eine Lerngruppe zusammengelegt, in der Kinder unterschiedlichen Alters zwar zusammen lernen, aber nicht das Gleiche. Denn Tempo und Stoff des Wissenserwerbs sind hier individuell. Sie richten sich nach der Entwicklung des jeweiligen Kindes.
„Es gibt riesige Unterschiede im Lerntempo“, sagt Lehrerin Gabriele Dorn. „Im klassischen Frontalunterricht können Sie darauf aber nicht eingehen, Sie bieten ja jedem Schüler das Gleiche an.“ Der Nachteil dieses Unterrichts: Die schnelleren Schüler langweilen sich, die langsameren sind überfordert.
In den Klassenzimmern der Hebel-Schule ist das anders. Hier sitzen Schüler zwischen fünf und acht Jahren zusammen an ihren Tischen, schauen sich über die Schulter und kriegen mit, wer was macht. Zwar ist klar, wer zur ersten und wer zur zweiten Klasse gehört. Aber es bedeutet nicht viel: Die Aufgaben richten sich danach, was das Kind schon kann und was nicht. „Wir holen die Schüler damit genau da ab, wo sie stehen“, sagt Christa Huhn, eine andere Lehrerin. Jedes Kind arbeitet in seinem eigenen Rhythmus. „Ich möchte auch endlich mal die Kärtchen für die zweite Klasse haben“, drängelt eine Erstklässlerin Frau Huhn. Nur ungern lässt sie sich auf die nächste Stunde vertrösten.
Wer schnell ist, der kann an der Mannheimer Grundschule schon nach einem Jahr in die dritte Klasse wechseln. Andere, die länger brauchen, haben die Möglichkeit, noch ein drittes Jahr im vertrauten Klassenverband zu verbringen und aufzuholen. Das klassische „Sitzenbleiben“ wird dadurch vermieden – und damit der Spott und der Frust, die damit verbunden sind.
Das System verändert das Lernen. Den Lehrerinnen steht der Stoff beider Jahrgangsstufen zu Verfügung. Das heißt, vieles kann wie nebenbei aufgegriffen, quasi im Vorbeigehen mitgenommen werden. Es entwickelt sich das so genannte versteckte Lernen, das vonstatten geht, ohne dass sich die Kinder bewusst mit den Inhalten beschäftigen. Gleichzeitig motiviert es sie, sich an neue Aufgaben heranzuwagen – ohne dass der Lehrer in Erscheinung tritt.
Auch die Rolle des Lehrers ist eine andere als vorher. „Ich bin inzwischen die letzte Instanz, an die die Kinder sich wenden“, sagt Huhn. Erst wenn sie gar nicht mehr weiterkommen, treten sie an die Lehrerin heran. Aber vorher werden Mitschüler gefragt. So wie Lars, der einige Minuten lang seiner Mitschülerin Zeynap beim Ausmalen bestimmter Tiere zuschaut und dann fragt, was er tun soll. Zeynap unterbricht daraufhin ihre Arbeit und erklärt – so umständlich, wie das Erstklässler eben tun. Was wiederum ein Lerneffekt ist: „Dadurch, dass die Kindern den Stoff nicht nur aufnehmen, sondern wiedergeben müssen, wiederholen sie ihn auch“, sagt Huhn.
Die neue Methode des Schulstarts in Baden-Württemberg, die inzwischen jede Schule praktizieren kann, scheint tatsächlich als Modell für die Zukunft zu taugen. „In jahrgangsgemischten Lerngruppen finden sich die Schulneulinge viel schneller und problemloser in der Schule zurecht“, konstatiert Christa Engemann, Referatsleiterin im Kultusministerium Baden-Württemberg. Die Zahlen geben ihr Recht: Wurden 1993/94 noch über 10 Prozent der Grundschüler in den Klassen eins und zwei zurückgestellt, so waren es 2000/01 nur noch 6,2 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der vorzeitigen Einschulungen von 1,4 auf 7,6 Prozent.
Die beteiligten LehrerInnen sind begeistert. Nicht nur weil sie endlich weniger Frontalunterricht machen müssen. „Wir bekommen von den weiterführenden Schulen vor allem die Rückmeldung, dass unsere Kinder sehr viel eigenständiger an das Arbeiten herangehen als andere“, erzählt Gabriele Dorn. Eine Bilanz des Kultusministeriums konstatiert eine „Zunahme der sozialen Kompetenzen und des selbstständigen Lernens“. In den Bereichen Lesen und Schreiben und beim Sprachverständnis zeige sich tendenziell eine Überlegenheit der Kinder, die die jahrgangsübergreifende Grundschule besucht haben. In den Fächern Deutsch und Mathe schnitten sie besser ab, auch Rechtschreibetests in der Mitte der zweiten Klasse bewiesen ihre Überlegenheit.
„Das hat nichts mit guten oder schlechten Schülern zu tun“, sagt die Schulleiterin Monika Schäfer. Als Lehrerin hat sie selbst an dem Modellversuch teilgenommen. „Fitter“ seien die Schüler der neuen Eingangsstufe nicht. Aber sie lernten besser, sich zu organisieren – und das Lernen zu lernen. „Die Umwelt der Kinder ist schneller und viel komplexer geworden. Da ist es das Wichtigste, den Kindern das Lernen und vor allem den Spaß daran beizubringen.“
Bislang waren es nur Eltern, die die neue Einschulungsform misstrauisch beäugten. Sie trauten den Fähigkeiten des eigenen Nachwuchses nicht so recht, hatten Angst, dass zu viel Sozialkompetenz und zu wenig individuelle Leistung bei dem Modell herauskommen. „Gerade bei antriebsschwachen Kindern schieben die Eltern das immer wieder gerne auf das System“, sagt Christa Huhn kopfschüttelnd. Inzwischen akzeptieren die meisten die neue Lernform.
Bleibt ein Nachteil, den auch die Lehrer beklagen: Ihr Arbeits- und Zeitaufwand hat sich enorm erhöht. „Aber zurück will trotzdem keiner“, sagt Christa Huhn und lacht. „Denn es macht einfach auch uns viel mehr Spaß.“