: Die schwergängige Traumschmiede
Die fehlende Studienorganisation der Unis verhindert es, dass die Studierenden in Deutschland zum Ende kommen
Alex hatte sich viel vorgestellt: Er wollte Auslandskorrespondent werden oder Lektor an einem großen Verlag. Zunächst war die Uni für ihn die Schmiede seiner Träume. Ein Ort der Vielfalt und der intellektuellen Bereicherung. Hier wollte er lernen, selbstständig zu arbeiten. Seit seinem Studienbeginn sind nun einige Jahre vergangen. Das Resultat: wenige Scheine, viele angefangene Hausarbeiten, starke Selbstzweifel. Ein Studienende nicht in Sicht.
Alex ist in Deutschland kein Einzelfall. Bei Geisteswissenschaftlern beträgt die durchschnittliche Studiendauer zwischen 15 und 16 Semester. Ein bisschen zügiger sind die Wirtschaftswissenschaftler mit 10 bis 11 Semestern. Auch sie aber liegen drei Semester über der Regelstudienzeit. Ganz egal in welchem Fachbereich, deutsche Studenten verbringen im Durchschnitt 5 Jahre länger an den Unis als ihre Kommilitonen in den USA oder in Frankreich.
Mit der Massenuni wurde in Deutschland der Langzeitstudierende geboren. Ein Student, der kam und blieb. Er soll sich nun beeilen – und damit die Bildungsmisere beheben.
Den Mitarbeitern der Studienberatungen ist das Problem längst bewussst. Sie sind die Einzigen, die sich grundsätzlich des Themas annehmen. Die durchschnittlichen Langzeitstudenten, mit denen sie es zu tun haben, sind nicht im 45. Semester Rechtswissenschaften, in den meisten Fällen nicht einfach faul, arbeitsscheu oder inkompetent, sondern Menschen, die Orientierung suchen. Das Fehlen von Strukturen im Studium hat sie eingeschüchtert. Vor allem an Informationen über das System Universität mangelt es dort.
Die Studienberatungen bieten Seminare an, in denen Studierende lernen, ihr Studium zu strukturieren und befriedigend zu Ende zu bringen. Sie versuchen denen, für die das lange Studium zur persönlichen Qual geworden ist, konkret zu helfen, aus dem Strudel von perfektionierter Aufschiebe- und mangelnder Arbeitstechnik herauszukommen. Für Hans-Werner Rückert, Psychoanalytiker und Leiter der Studienberatung der FU Berlin, steht das Herauszögern des Studiums im Kontext einer allgemeinen Tabuisierung der Defizite in der Studienorganisation: „Im Grunde genommen haben alle etwas von der Aufrechterhaltung dieser Situation. Die Dozenten wollen sich nicht mit profanen didaktischen Fragen beschäftigen, sie sehen ihre Arbeit vor allem darin, intellektuelle Höchstleistungen hervorzubringen. Die Studierenden vermeiden gerne den Moment, in dem sich herausstellt, dass sie eventuell ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden oder sie eine konkrete Zukunftsplanung angehen müssen.“
Die Stimme der Langzeitstudierenden selbst ist längst verklungen. In einer Situation gegenseitigen Desinteresses haben sie sich daran gewöhnt, dass weder sie selbst noch andere etwas von ihnen fordern. Für Rückert haben Langzeitstudierende ein Betreuungsproblem: „An den Universitäten treffen Studierende auf eine Situation organisierter Verantwortungslosigkeit: Wenn sie überhaupt in einer Sprechstunde landen, kommen die wichtigen Themen oft gar nicht zur Sprache.“
Die meisten Professoren sehen ihren Auftrag in erster Linie in der Forschung und erst in zweiter auch in der Lehre. Was die Studis abschreckt, ist das Bild des unnahbaren, ans Genialische heranreichenden Professors.
Grundsätzlich lösbare Studienprobleme sammeln sich für die Studierenden zu einem unüberschaubaren Berg an, ohne dass davon irgendjemand etwas zur Kenntnis nimmt. Bei den Studien- und psychologischen Beratungen landen häufig nur diejenigen, deren Leidensdruck so stark ist, dass im wahrsten Sinne „nichts mehr geht“.
Daher wissen die Mitarbeiter der Studienberatungen auch, dass die Studierenden selbst am meisten unter überlangen Studienzeiten leiden. Sie sind es, die an ihren eigenen Kompetenzen zweifeln und meist abstrakte und überzogene Vorstellungen von den Ansprüchen der Universität an sie haben.
Mit dem strukturellen Problem der schlechten Studienorganisation kämpft aber eine viel größere Zahl von Studierenden. Wer sich durchgewurschtelt hat, erinnert sich selten positiv an seine Studienzeit.
Vorschläge zur Verbesserung der Studieninhalte und Studienorganisation gibt es unter Studierenden reichlich. Umso erstaunlicher, dass sich Studierende selbst nur allzu bereitwillig mit den miserablen Bedingungen abfinden. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich für viele ein schnelles Studium nicht lohnt. Kein Traumjob wartet auf sie, sondern unbezahlte Praktika ohne Übernahmewahrscheinlichkeit. Anzeigen für Praktikantenstellen in Berliner Stadtmagazinen gleichen Annoncen für hochdotierte Stellen in der Wirtschaft – mit dem Unterschied, dass in der Rubrik „Bezahlung“ immer „keine“ steht. In der Uni wurden potenziell arbeitslose Akademiker lange Zeit geparkt.
Nun beschmutzen sie das Ansehen der Unis. Der Mythos Humboldt bröckelt. Nun wird der Versuch unternommen, mit Studiengebühren, Studienkonten, obligatorischen Prüfungsberatungen und im schlimmsten Fall mit Exmatrikulation dem Problem zu begegnen. Aber auch die Einführung neuer Bachelor- und Masterabschlüsse erscheint nur dann sinnvoll, wenn man ernsthaft vorhat, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen.
Was gefordert wäre, ist Handlungskompetenz. Aber Handlungskompetenz hat nur der, der sich auch über seine Ziele im Klaren ist oder der nicht andere Ziele hat, als er vorgibt. Zurzeit betreibt die Uni in vielen Bereichen nicht viel mehr als Spätauslese nach der Treibsandmethode: Wer durchkommt, hat Glück. Anders als in Frankreich oder den USA bleibt wegen der relativ offenen Zugangsmöglichkeiten zum Studium diese Funktion völlig intransparent. Langzeitstudierende haben ihr Studium unter falschen Vorzeichen begonnen – und studieren in der Regel unfreiwillig so lange.
Alex war irgendwie erleichtert, dass sich die Uni jüngst mal bei ihm gemeldet hat, wenn auch nur in Form der Einladung zur „Zwangsberatung“. Ein Ende kommt in Sicht. Es sieht aber weniger nach dem Grande Finale aus als nach einem unspektakulären Abgang aus der mitverschuldeten Unmündigkeit.
INGA SCHONLAU