: Eine Bildungsrevolution für die Kleinen
In der internationalen Vergleichsstudie „Iglu“ schneidet die deutsche Grundschule gut ab – weil sie hierzulande die innovativste Schulform ist. Nirgends sind moderne Unterrichtsformen so weit verbreitet, nirgends lernen Kinder so selbstbestimmt, nirgends kooperieren die Lehrer so gut
von MARC BÖHMANN, CLAUDIA PANGH und REGINE SCHÄFER
Die GrundschullehrerInnen dürfen sich freuen. Die gestern veröffentlichte Grundschulstudie Iglu („Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“) zeigt, dass deutsche Viertklässler im internationalen Vergleich gut dastehen. Viel besser als die 15-Jährigen, die bei der Pisa-Studie so schlecht abschnitten. Nimmt man die Bildungsausgaben für die Schularten in Deutschland zum Maßstab, so ist das Abschneiden der Grundschulen sogar noch höher zu bewerten. Denn die deutsche Primarstufe ist das Stiefkind der Bildungspolitik. Hier gibt es die größten Klassen, die höchsten Unterrichtsdeputate und die schmalsten Gehälter.
Ist Iglu also die Wiedergutmachung nach der Pisa-Schmach? So einfach ist es leider nicht. Dass Deutschland mit seinen Viertklässlern an elfter Stelle von 34 Staaten und damit im oberen Mittelfeld steht, ist erfreulich, aber kein Ruhekissen. Dafür spricht dreierlei. Erstens ist – wie bei Pisa – der Abstand zur Weltspitze groß, gerade zum Spitzenreiter Schweden. Zum Zweiten spielt auch in der deutschen Grundschule die soziale Herkunft der Kinder eine wichtige Rolle. Und drittens gibt es hierzulande deutlich weniger SchülerInnen mit Topleistungen bei den Lesekompetenzen als in den Staaten, die weit vorne stehen.
Für Fachleute ist dieses Ergebnis keine Überraschung. Seit langem weist die empirische Schulforschung nach, dass die Grundschule die innovativste deutsche Schulform ist. Nirgends sind moderne Unterrichtsformen so verbreitet, nirgends lernen Kinder so selbstbestimmt, und in keiner anderen Schulform kooperieren Lehrerinnen – in der Grundschule unterrichten zu 85 Prozent Frauen – so intensiv miteinander.
Das Selbstverständnis und die verbreitete Praxis der Grundschule unterscheidet sich von dem der Sekundarstufe. Von der ersten bis zur vierten Klasse steht der Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz ganz selbstverständlich im Mittelpunkt des Unterrichts.
GrundschullehrerInnen haben dabei neue Lernformen für ihre Schüler erschlossen. Leseförderung ist hier ganz alltäglich. Kinder werden gezielt als Textdetektive geschult: Leseecken, Lesenächte und freie Lesezeiten gehören zum Repertoire. Das Vorstellen selbst gelesener Bücher untereinander ist für Viertklässler heute beinahe normal, egal, ob es sich um Literatur oder um Sachbücher handelt.
Die Primarstufe hat wie keine andere Schulform Abstand von der alten Schule genommen. Das klassische Diktat etwa ist out. Weil dieses lautorientierte Nachschreiben eines gelesenen Textes durch die ganze Klasse die Starken langweilt und die Schwachen kaum fördert. Stattdessen werden auf den Einzelschüler bezogene Diktate mit individuell erarbeitetem Wortschatz trainiert. Vor 20 Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.
Ähnliches geschieht beim Verfassen von Aufsätzen. Die Schüler werden dazu angeregt, das Schreiben der eigenen Texte als Problemlösen zu begreifen. In so genannten Schreibkonferenzen überarbeiten sie gemeinsam den eigenen Text und die Aufsätze der anderen. Das alles hat nur noch wenig mit dem Deutschunterricht zu tun, den die Erwachsenen von heute aus ihrer Schulzeit kennen. Und schon gar nichts mit der „Kuschelpädagogik“, die so oft mit der Grundschule in Verbindung gebracht wird. Die Lehrpläne in der Sekundarstufe stellen dagegen häufig noch stärker die Inhalte in den Mittelpunkt des Lernens, nicht die Kompetenzen.
Die Grundschule ist noch etwas anderes. Sie ist die einzige flächendeckende Gesamtschule in Deutschland. Hier werden alle Kinder gemeinsam unterrichtet, die Leistungsunterschiede sind so groß wie in keiner anderen Schulart. Das ist offenbar kein Nachteil, sondern wahrscheinlich ein Grund dafür, dass die Grundschüler relativ gut dastehen. Denn in der Grundschule bekommen auch die Schwächsten die Inhalte und Methoden angeboten, die auch die stärksten Schüler noch fordern. Die heterogene Schülerschaft kann so als anregungsreiches Milieu auch für die so genannten Risikogruppe der schwachen Schüler wirken.
In den Hauptschulen haben dagegen viele LehrerInnen ihren Unterricht auf ein niedriges Ausgangsniveau gedrosselt, weil es an den Leistungsträgern fehlt. An der Grundschule ist das anders: Mitschüler können sehen, wie stärkere Schüler einen Text begreifen, wie sie Informationen entnehmen oder literarische Erzählmuster entdecken. Das heißt: Sie verstehen auf Dauer mehr. In Grundschulen ist es alltäglich, sich gegenseitig Sachverhalte zu erklären oder anderen die eigenen Lernwege weiterzugeben. Die Lernatmosphäre gilt als kooperativer und zielt weniger auf Wettbewerb.
Für GrundschullehrerInnen sind die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ihrer Schüler etwas vollkommen Normales. Ihre Vorstellung lautet: Wir müssen und können alle Schüler fördern, wir dürfen niemanden abschieben. Es könnte also sein, dass gerade die heterogene Schülerschaft der Grundschule ein dickes Plus für die Qualität dieser Schulart ist.
Iglu wird die Frage, welche Schulstruktur sich hemmend oder fördernd auf die Schulleistungen auswirkt, wieder auf die Tagesordnung setzen. Trotz Pisa blieb es in Deutschland beim unausgesprochenen Konsens, das gegliederte Sekundarschulwesen nicht in Frage zu stellen. Iglu zeigt nun, dass die spezifisch deutsche Annahme falsch ist, homogene Klassen und Schulen seien besonders gut geeignet, jungen Menschen Kompetenzen zu vermitteln. Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm formuliert es feiner, aber genauso drastisch: „Homogenisierung ist eine Qualitätsfalle.“
Es scheint nach Iglu an der Zeit, integrative Schulsysteme auch in der Sekundarstufe zu erproben. Aber reflexartig antworten maßgebliche BildungspolitikerInnen darauf mit „Nein“. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU), derzeit KMK-Präsidentin, sagte vergangene Woche auf der Bildungsmesse in Nürnberg noch apodiktisch: „Die Schulstruktur ist überhaupt nicht das Problem.“
Das Fachpublikum schüttelte den Kopf. Und der Pisa-Chef der OECD, Andreas Schleicher, widersprach kühl. „Sie müssen endlich zur Kenntnis nehmen: Schon Pisa hat gezeigt, dass das Bildungssystem einen großen Einfluss auf Chancengleichheit oder Chancenungleichheit hat.“
Es ist paradox: Die CDU-Kultusminister lehnen einerseits eine Debatte über die Schulstruktur ab. Und greifen andererseits doch massiv in Strukturen ein. In Niedersachsen wird die Orientierungsstufe abgeschafft und die Gesamtschule gedeckelt. In Sachsen-Anhalt führt man erstmals die Hauptschule ein. Mit solchen Maßnahmen halten Politiker an einer Begabungsideologie fest, nach der Lernprozesse nur dann erfolgreich sein können, wenn sie gemäß angenommener Begabungstypen in unterschiedlichen Schularten organisiert werden. Pisa lieferte massive empirische Belege gegen dieses Argument. Wer es nach Iglu noch immer benutzt, muss sich vorwerfen lassen, standhaft Fakten zu ignorieren.
Marc Böhmann, Claudia Pangh und Regine Schäfer sind LehrerInnen und wissenschaftliche Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie arbeiten im dortigen Forschungskolleg „Lesesozialisation, literarische Sozialisation und Umgang mit Texten“