Das kastrierte Kunstwerk

Autonome Kunstkritik ist affirmativ: Der Philosoph Harry Lehmann formuliert zehn Thesen zu einer Kunstkritik, die dem heteronom funktionierenden Kunstbetrieb nottäte

Weil sich über Geschmack nicht streiten lässt, wird der Preis zum Indikator für die Bedeutung von Künstlern

„Autonome Kunstkritik ist affirmativ“, so lautet eine der zehn Thesen, die der systemtheoretisch argumentierende Philosoph Harry Lehmann im aktuellen Heft der Monatszeitschrift Merkur zur Debatte stellt. Die autonome, kunstimmanente Kritik argumentiert nicht mit der Unterscheidung gut und schlecht; sehr viel spannender versucht sie, „eine sprachliche Brücke aus dem Zentrum des kulturellen Selbstverständnisses hin zu den exzentrischen Beobachtungsposten zu schlagen, den ein Kunstwerk konstruiert“. Es geht darum, das Angebot, das die Kunst macht – nämlich die unvorhersehbare, überraschende Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung im Medium der ästhetischen Erfahrung – gesellschaftlich wirksam zu kommunizieren.

Bewusst spricht Lehmann vom Beobachtungsposten und nicht vom Vorposten, wie es in Zeiten der Moderne selbstverständlich gewesen wäre – als die Avantgarde mit dem Anspruch, ihre Kunst sei hochgradig kommentarbedürftig, weil nicht mehr direkt über die ästhetische Wahrnehmung erfahrbar, bis ins Zentrum des kulturellen Selbstverständnisses durchgedrungen war. Diesen Anspruch muss auch die in hohem Maße selbstreflexive und theoriegesättigte postmoderne Kunst erheben. Wie bei der historischen Avantgarde erschließen sich auch ihre Werke nicht allein über Wahrnehmung und das reaktionsschnelle Alltagsgeschäft des Decodierens populärer, visueller Codes. Auch sie ist extrem kommentarbedürftig, gerade dort, wo sie verstärkt ästhetisch argumentiert und auf traditionelle Formensprachen zurückgreift.

Daher gilt für Lehmann auch heute: „Die Reflexion über Kunst ist konstitutiv für die Kunst.“ Seine These allerdings, „ es gibt eine Kunstkritik, die Teil des Kunstsystems ist“, grenzt sie erst einmal nur gegen die Texte zur Kunst in Presse und Wissenschaft ab, die nicht Teil des Kunstsystems sind.

Nur dort hat die Reflexion über Kunst Folgen für das systemimmanente Paradox von Autonomieanspruch der Kunst und den Heteronomieerscheinungen, die eine pluralistisch argumentierende Postmoderne strukturell erzeugt. So erhöht der erheblich erweiterte Urteilsspielraum für die Kunst etwa die Chancen kunstfremder Gesichtspunkte, zum Zuge zu kommen.

Anything goes – aber nicht alles gefällt und vor allem nicht jedem. Differenz bildet sich in den Launen des Geschmacks heraus. Und weil sich über Geschmack bekanntlich nicht streiten lässt, wird schließlich die Höhe des Preises für einen Künstler zum Indikator für die Bedeutung seines Werkes.

Gegen diesen heteronomen Indikator Preis stellt Lehmann nun in seinen Thesen den autonomen Indikator der affirmativen Kritik. Denn gerade wenn sich über Geschmack, also Nachfrage und damit Preis, nicht streiten lässt, überzeugt die affirmative Auseinandersetzung, die mit dem Werk weiterarbeitet und weiterdenkt: Weil „nur die Kunst, die kritisierbar ist“, gelungen ist, wie Lehmann sagt.

Die systemtheoretische Herleitung einer für die autonome Kunst unabdingbaren kritischen Reflexion, andernfalls das Kunstwerk kastriert und um seine besondere Potenz gebracht wird, ist die sehr viel anspruchsvollere Formulierung einer Forderung, die derzeit auch im Kunstbetrieb (der nicht das Kunstsystem ist) Konjunktur hat: die Forderung nach einer substanziellen Auseinandersetzung mit dem Werk, die mit dem Ausstellungsende oder dem Verkauf nicht erledigt ist, sondern weiterführt und neue Spuren legt.

Auch für die Medien bringen die Heteronomieerscheinungen des Kunstsystems Probleme. Es ist eben nur mäßig amüsant, die Öffentlichkeit vor allem über Sammlernamen und gesellschaftliche Netzwerke, über trickreiche Leihgaben, finanzielle Transaktionen und PR-Coups zu informieren, sobald es um Kunst geht. Harry Lehmanns Überlegungen werden also nicht nur den üblichen Verdächtigen vielfältige Anregung bieten.

Dass das Kunstsystem über die autonome Kunstkritik, wie sie Lehmann skizziert, nicht verfügt, versteht sich von selbst.

BRIGITTE WERNEBURG

„Merkur“, Heft 714, November 2008, 11 €, www.online-merkur.de