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Archiv-Artikel

Fickst du mich, fick ich dich

Mögen sich statt meiner die Berge erfreuen: Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag „Gegen die Wand“ ist ein Wagnis im besten Sinne des Wortes: So krude der Plot, so dick Akin auch aufträgt – selten sah man subtilere Bilder für Verzweiflung und Verlorenheit

VON CRISTINA NORD

Das wichtigste Wort in diesem Film ist „ficken“. Allein der Klang – das spitze „i“, das zackige „ck“ – ist Ausdruck von Härte und latenter Gewalt. In der Vorstellung der Figuren ist es die denkbar größte Schmach, gefickt zu werden. Je häufiger dieses Wort ausgesprochen wird, umso klarere Konturen gewinnt die Welt von Demütigung und Unterwerfung, die Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag „Gegen die Wand“ errichtet.

Analog dazu setzt der Film Blut ein. Er versucht, seine Geschichte über die Wunden zu vermitteln, die sich die Figuren zufügen oder die ihnen zugefügt werden. Der französische Regisseur Erick Zonca hat mit „Der kleine Dieb“ (1999) etwas Ähnliches vorgemacht, als er die Leiber der Protagonisten als Narbenlandschaften entwarf und diese Narben Schmuck, Trophäen und Zeichen eines beschädigten Lebens in einem waren. Doch während Zonca zwischen der Verletzung und deren Niederschlag auf den Körper eine Distanz eingebaut hat, entscheidet sich Akin für die Unmittelbarkeit der offenen Wunde. Aufgeschnittene Pulsadern, zusammengetretene Gesichter, Messerstiche im Bauch: Wenn ficken das Wort von „Gegen die Wand ist“, dann ist rot die Farbe, und der gewaltsam geöffnete Körper ist die Grammatik des Films.

Das hört sich gefährlich an, so, als hätte Fatih Akin alles getan, um Maßlosigkeit in seinen Film zu bringen. Hat er auch, und wenn man ihm etwas vorhalten möchte, dann dies: dass er zu dick aufträgt, zu entschlossen nach dem Rohen sucht. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, dass „Gegen die Wand“ Akins bisherige Filme überragt, dass er ein Wagnis im besten Sinne des Wortes ist, radikaler als „Kurz und schmerzlos“ oder „Im Juni“, weniger oberflächlich und zerfahren als „Solino“.

Der Plot ist krude, er springt in der Zeit, und er lässt nichts aus. Es beginnt mit Cahit (Birol Ünel), einem 40 Jahre alten Loser aus St. Pauli. Er will sich töten, indem er gegen eine Wand rast. Sibel (Sibel Kekilli), die der Enge ihres Elternhauses entfliehen und deswegen eine Scheinehe mit Cahit eingehen will. Das führt zu einer paradoxen Situation. Die beiden kommen nicht zueinander, obwohl sie schon beieinander sind. Und weil sie einander verfehlen, obwohl sie sich doch bitter nötig hätten, geschieht eine Menge Unheil. Ein junger Mann stirbt, Sibel muss vor ihrer Familie nach Istanbul flüchten, verliert sich dort in Koks und im Suff, wird vergewaltigt und misshandelt, viel später reist Cahit ihr nach. Finden sie jetzt zueinander?

Wer sich nach schlichten Filmplots sehnt, wird aufstöhnen: Das reicht für mindestens fünf Filme! Recht hat er – und doch wieder nicht. Denn ab einem bestimmten Grad der Stilisierung kommt es nicht mehr darauf an, was passiert. Schon gar nicht sollte man „Gegen die Wand“ mit Vorstellungen von Milieutreue oder Sozialrealismus begegnen. Denn so treffend Akin manche Situationen schildert, so klar ist, dass er sich in einer Kunstwelt bewegt, in einer Welt, die keine Wirklichkeit abbildet, sondern sich am Kino orientiert. Woher schließlich stammt die Grammatik der blutigen Körperöffnungen, wenn nicht aus Filmen? Und woher Akin seine Vorbilder nimmt, ist leicht herauszufinden, wirft man einen Blick auf das Programm der New-Hollywood-Retrospektive. Wenn „The Godfather“ Kohärenz vornehmlich über abgeschnittene Pferdeköpfe und von Kugeln zersiebte Körper stiftete, warum sollte sich Akin nicht an etwas Ähnlichem versuchen?

Das Besondere von „Gegen die Wand“ liegt nun darin, dass Akin das Rohe mit literarischer Raffinesse ummantelt: Das Motiv, dass eine Frau durch ihre Heirat den Freiraum bekommt, nach Gusto fremdzugehen, stammt aus den Ehebruch-Romanen des 19. Jahrhunderts. Raffiniert auch die musikalischen Intermezzi, die den Film in Akte strukturieren: Am Ende jeder Einheit sieht man das Ensemble des Musikers Selim Sesler, sechs Männer in Schwarz, eine Frau in Rot; die letzte Zeile ihres Gesanges lautet: „Mögen sich statt meiner die Berge erfreuen.“

Darüber hinaus holt Akin –passend zum Alter seines männlichen Protagonisten – einige Dark- und New-Wave-Songs aus der Versenkung. Die Sisters of Mercy kommen vor, zweimal wird Depeche Modes „I feel you“ eingespielt. In beiden Szenen verliert ein Körper die Kontrolle, sobald die Zeile „This is the Dawning of our Love“ erreicht ist. Einmal geht Sibel allein über den Rummel, die Kamera schwelgt in den Lichtern der Karussells und Achterbahnen. Der Himmel im Hintergrund ist von jenem Blau, das entsteht, wenn der Tag in die Nacht übergeht. Die Bilder laufen leicht verlangsamt; dazu ertönt sanfter Soul aus den 60ern. Eine wunderschöne, leichte Sequenz ist das, eine Zäsur im Hinblick auf die Gewalttätigkeit des übrigen Films. Da Akin oft mit kontrastreichen Bild- und Tonschnitten arbeitet, fällt der Wechsel vom Rummel in die Kneipe auch hier sehr hart aus. Das Unheil ist eben dann am nächsten, wenn man sich in Sicherheit wähnt.

Die Hauptdarsteller tragen die Tour de Force verblüffend sicher. Andere würden sich den immer gleichen Gesten der Härte hingeben, würden sich in der einmal vorgegebenen Emphase einrichten, Kekilli und Ünel hingegen bleiben wandlungsfähig. Sie sind zur Ruhe imstande, zum Innehalten, zu langen, statischen Blick- und Wortwechseln. Der Film tut es ihnen gleich, indem er sich immer mal wieder ausruht – etwa wenn Sibel, schon in Istanbul, auf der Couch sitzt und im Fernsehen einer Gewichtheberin zuschaut oder wenn ihre Mutter, diese Frau mit dem fahlen Gesicht, den blond gefärbten Haaren und der besonderen Art, sich beim Rauchen die Zigarette anzuschauen, wenn also diese Frau bei der Hochzeit der Tochter ins Bild rückt: Die Kamera bleibt auf Distanz, das hellrote Kleid beißt sich mit dem Bordeauxrot des Teppichbodens, im Hintergrund sind die Hochzeitsgäste mit sich selbst beschäftigt. Wann war zuletzt ein so subtiles Bild von Verlorenheit im Kino zu sehen?

Heute, 9.30 Uhr, Royal Palast, 20 Uhr, International