: In Gottes Norm
AUS DRESDEN THOMAS GERLACH
In der Spitze der Frauenkirche brennt ein milchig-grünes Licht, als ob dort gute Geister wohnten. Doch unter den Bauplanen turnen nur zwei Steinmetze herum, bohren fingerdicke Löcher in Sandsteinblöcke, und die Bohrer kriechen hinein als wär’s Butter. Bohrer raus, Dübel rein, Schlaghaken rein, Hebezeug ran, angehoben und abgesetzt, dann saust ein paar Mal der Gummihammer auf und nieder, zack, zack und fertig! Es ist wie Bauen mit Lego. „Postaer Sandstein!“, ruft Bauingenieur Andreas Wycislok von der Stiftung Frauenkirche. Der gebürtige Bochumer ist an die Kuppelspitze gelangt. Ein bisschen zerrt der Wind am Gerüst, von unten dröhnt die Stadt. Höher hinauf geht’s nicht.
Wycislok hat vorher den Fahrstuhl gezeigt und links liegen gelassen, ist in die Betstubenempore hineingegangen, hat in die Innenkuppel gewiesen, hat über verschiedene Mörtel doziert und über Temperaturdifferenzen. Und er ging den Pfad zwischen Innen- und Außenkuppel konzentriert wie ein Pilger, griff kenntnisreich in den Klimaputz, zog den behelmten Kopf ein und stieg sportlich um Trafokästen herum immer höher die Rampe hinauf wie auf einen neuen Berg Sinai inmitten der Stadt.
Oben werden die Gedanken feierlich. „So was wie die Frauenkirche baut man nur einmal im Leben“, sagt Wycislok. Seit gut acht Jahren arbeitet er an der Kirche, die „standsicher, wartungsarm und steinrichtig“, also ohne sichtbaren Beton, errichtet wurde. Und alles ohne DIN-Norm, da für Sandsteinbauten so ein Regelwerk nicht existiert. Im Mai wird der Laternenschaft vollendet. Dann hebt ein Kran die 27 Tonnen schwere Haube als Krone auf den Bau. Gut ein Jahr früher als ursprünglich geplant. Ein bautechnisches Wunder?
„Es gibt einen größeren Respekt bei diesem Bau, auch voreinander“, sagt Wycislok ein wenig pastoral. „Das Engagement ist größer.“ Außerdem seien die Spendengelder, insgesamt 90 Millionen Euro, beständig geflossen. Mit der Kirche ist wohl auch der Ingenieur gewachsen, so ein Bau prägt fürs Leben.
Wycislok schiebt in 75 Meter Höhe einen Riegel beiseite, öffnet die Tür und tritt auf die Kranplattform hinaus. In der Ferne verschwimmen die Felsen des Elbsandsteingebirges. Von dort ist die Kirche Stein für Stein in die Stadt gekommen. Am 31. Oktober 2005, dem Reformationstag, wird sie geweiht. Dann wird Wycislok mit gerade 42 Jahren auf sein Lebenswerk blicken. Vielleicht wird er danach nur noch Verwaltungsschachteln und Tiefgaragen nach DIN-Norm bauen wie alle Ingenieure. Der Blick wandert zum Grauschleier auf den Schuhspitzen. Zumindest was den Staub betrifft, gleicht die Kirche jedem Tiefgaragenbau.
„Nee, die Frauenkirche ist schon schön!“ Wilfried Peschel* sagt das mehr zu sich selbst, faltet Saftkartons akkurat wie Dokumente, wirft sie in den Container und geht zur Flaschenannahme zurück. Peschel ist wie Wycislok vom Fach. Zumindest war er es lange Zeit. Jetzt hat er umgesattelt. Peschels Getränkemarkt am Dresdner Stadtrand existiert seit zwei Jahren und führt Dutzende Sorten Bier. Vielleicht braucht der Mensch manchmal eine Kirche, zu Weihnachten zum Beispiel. Saft und Bier braucht er jeden Tag.
Im vergangenen Sommer hat Peschel hier Ströme von Wasser und Bier verkauft. Vielleicht bringt die Frauenkirche doch noch Glück, jetzt wo sie so schwebt über Dresden, strahlend weiß und weich wie Marzipan. Da, wo Touristen ihre Nasen hinstrecken, da, irgendwo im Kirchengemäuer, zehn Kilometer vom Getränkemarkt entfernt, ist auch Peschels Geld verbaut, nicht viel, ein paar hundert Mark, aber immerhin. Es hätte Glück bringen können. Es brachte keins. Als ob der Bau selbst alles verzehrt hätte. Die Kirche, die sich jetzt so prächtig erhebt, ist das Gegenstück zu Wilfried Peschels Leben.
Vor zehn Jahren lag sie noch in Trümmern und Peschel glänzte, er hatte eine eigene Baufirma und ein eigenes Haus, goldene Hände hatte er sowieso. Dann haben sie die Rollen getauscht. So wie die Kirche wuchs, ging es mit Peschels Firma bergab. Jetzt reckt sich die Kuppel in den Himmel und Wilfried Peschel wohnt zur Miete und nimmt Pfandflaschen an. Dabei hatte er mal ein Dutzend Handwerker unter sich.
1991 hat er sich mit seiner Baufirma selbstständig gemacht, damals war die Frauenkirche nur ein haushoher Schutthaufen. Im ostdeutschen Baugewerbe dröhnten die Mischer, Peschels Geschäfte liefen gut. Fünf Jahre später feiert er seinen 50. Geburtstag, da war der Steinhaufen abgetragen, ein Zaun sperrte die Baustelle ab, die neu gegründete Stiftung Frauenkirche sammelte Geld und verkaufte ihre Stifterbriefe: in Bronze, Silber und in Gold, später auch in Platin für 20.000 Mark.
Bei seiner Geburtstagsfeier verlangte Peschel keine Geschenke für sich, er wollte was Wohltätiges tun, wollte abgeben von seinem Erfolg, hat bei seinen Gästen Geld gesammelt und für 500 Mark einen Bronzenen Stifterbrief gekauft. Und da die Stiftung diese Finanzgeschäfte nicht allein tätigt, wickelt die Dresdner Bank die Herausgabe dieser Briefe ab. Bei ihr hatte Peschel auch schon längst sein Geschäftskonto. Der Stifterbrief garantiert ihm einen Eintrag ins Goldene Buch. Aber darum geht es nicht. Wilfried Peschel ist aus Dresden, wie die Bank und wie die Kirche auch. Sachsen halten zusammen.
Darum hat er auf der Feier den Gästen auch „Original Frauenkirche-Uhren“ verkauft – mit Kalbslederarmband und einem Stückchen Sandstein von der alten Kirche unter Glas. 100 Mark das Stück, 20 gingen in den Wiederaufbau. Peschel ist kein Christenmensch und hat mit Kirche nichts am Hut, doch die Frauenkirche ist mehr als ein Gotteshaus. „Die Frauenkirche ist schon schön!“, fasst Peschel noch einmal zusammen und schaut zufrieden auf die leeren Kästen, die sich um ihn türmen.
Der Geburtstag war vorüber, auf der Kirchenbaustelle wuchsen die Gerüste und im Kellergewölbe wurde die Unterkirche geweiht. Aus dem Steinhaufen war wieder eine Kirche geworden. 20 Meter war sie da schon hoch. Auf Peschels Baustellen dröhnte es auch und er fuhr ein Auto, das so groß war wie die Aufträge – Arbeit für Jahre: Reihenhäuser für einen Bauträger aus Berlin. Und die Dresdner Bank, die mit der einen Hand Stifterbriefe verkauft, gab mit der anderen Hand Peschel einen ordentlichen Dispo, um die Baustellen zu meistern: Materialeinkauf, Löhne, Lohnnebenkosten.
Die 100.000 Mark haben immer gelangt, und am Anfang hat der Bauträger die Rechnungen auch bezahlt. Noch war man in Feierlaune – zumindest bei der Dresdner Bank. Im Schatten der Frauenkirche, in der Wilsdruffer Straße, wurde sie 1872 gegründet. Den 125. Geburtstag feierten Vorstand, Aufsichtsrat und Gäste im Schloss Pillnitz mit barocker Pracht. Wilfried Peschel hatte zu der Zeit schon kräftige Falten im Gesicht und schlief nicht mehr gut. Zu Weihnachten stand er vor der Frauenkirche und hörte „Oh, du Fröhliche!“. Die Kirche wuchs unaufhörlich.
Das Ende kam 2002. Der Bauträger schickte Anwälte, machte Baumängel geltend und zahlte nicht mehr. Dann meldete sich auch die Dresdner Bank. Der Dispo müsse ausgeglichen werden, Zahlungsfrist vier Wochen. Nach ein paar Aufschüben hat Peschel der Bank sein Haus verkauft. Sein DDR-Leben hat er da hineingesteckt. Mancher wunderte sich, dass Peschel keinen Strick nahm. Die Frauenkirche war damals über 50 Meter hoch. Jetzt hat sie bei 75 Metern den Scheitel erreicht, Peschels Gesicht ist geröteter als früher und seine Haare sind grau. Arbeit hat er, die Schulden sind bezahlt und die Albträume sind weg – Zeit, dass es bergauf geht.
„Die Frauenkirche ist die Seele der Stadt!“ Ein Satz süß wie Dresdner Stollen. Pfarrer Stephan Fritz hat diesen Satz gewiss schon oft kredenzt. Fritz ist der Pastor der Frauenkirche, aber er sitzt noch nicht in der Sakristei, da müssen die Bauarbeiten erst noch fertig werden. Er sitzt auch nicht in der längst vollendeten Unterkirche mit dem Kreuzgewölbe, Fritz fläzt im kahlsten Raum des Cosel-Palais im fünften Stock, gleich neben der Kirche. Seit vier Jahren ist er der Pfarrer dieser Kirchenbaustelle. Wenn die Kirche geweiht ist, wird es kurze tägliche Angebote, Musiken, Gebete, Besinnungen geben – aber keine Gemeinde.
Das Kirchengebäude wird wiedererrichtet, doch die Ortsgemeinde bleibt versunken, die hat sich, anders als der Schutthaufen, nach dem Krieg in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut. Nun soll es so etwas wie eine Ad-hoc-Gemeinde geben. Wer in die Kirche tritt, gehört irgendwie dazu. „Wir befinden uns auf dem Anbietermarkt“, sagt Fritz wie ein Verkaufsmanager. Das klingt zeitgemäß unverbindlich. Mit dem „Sommernachtstraum“ in der Semperoper und den Schaufelraddampfern auf der Elbe wird die Frauenkirche dann konkurrieren.
Und ein bisschen wetteifert sie schon. An diesem Abend im Februar gibt es Literatur in der Unterkirche. „Schlachthof 5“ vom amerikanischen Erzähler Kurt Vonnegut, der als junger Kriegsgefangener das Inferno von Dresden überlebt hat. Oben leuchtet die Kuppel in milchig-grünem Licht, unten im Gewölbe der Unterkirche lauschen 60 Kulturbeflissene einem Schauspieler, der mir warmer Stimme anhebt: „Dresden wurde in der Nacht vom 13. Februar 1945 zerstört.“
Wilfried Peschel sitzt an diesem Abend im Getränkemarkt beim Feierabendbier und sagt ganz ruhig: „Als mir das Wasser bis zum Hals stand und ich das Haus verkaufen musste, hätte ich gern die Leute vom Bauträger und von der Bank mit einem Gewehr erledigt.“ Peschel nippt an der Flasche. „Das ist vorbei, ich schlafe gut. Das ist die Hauptsache.“ Vielleicht hat die Frauenkirche das Schlimmste verhindert.
* Name geändert