Jeder Flughafen in Europa

Im Züricher Club Rohstofflager hat sich die internationale Plattenauflegerelite getroffen. Vor dem Gig wurden sie noch zur Fotosession geladen. Daraus ist mit „Raw Music Material“ ein hübsches schweizerisches Bilderbuch über DJs entstanden

Statt schwitzender Massen sieht man DJs beim Herumlungern im Clubmobiliar

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Glückliche Schweizer! Sie haben so viel Geld, dass sie einfach machen können, was sie wollen. Da hat zum Beispiel die Stadt Zürich ein langweiliges Nachtleben. Was tun? Einfach einen Club aufmachen, und in fünf Jahren einen gut Teil der Corona teurer, internationaler Star-DJs einfliegen –schon ist in Zürich Partytime. Ganz einfach. So ähnlich dürfte es wohl gelaufen sein beim Züricher Club Rohstofflager, wo sich wirklich alles, was gut und teuer ist, den Tonarm in die Hand gegeben hat: Laurent Garnier, Luke Slater, Sven Väth, WestBam, Miss Kittin and the Hacker, Ricardo Villalobos, Cristian Vogel, Jeff Mills, LTJ Bukem, Ed Rush, Hell, Goldie und und und …

Und weil die guten Leute schon einmal in der Stadt waren, wurde von jedem gleich noch ein Foto gemacht und ein Statement entlockt. Dass die große Zeit der DJ- und Techno-Euphorie vorbei ist, hat die Besitzer des Rohstofflagers nicht davon abgehalten, diese nun in einem Buch zu veröffentlichen, das ein Schmuck für jeden Couchtisch sein dürfte: „Raw Music Material“ ist ein schönes Bilderbuch über Diskjockeys und elektronische Musik. Anders als bei den meisten Büchern über Techno sind hier allerdings keine durchgeschwitzten Massen zu sehen, sondern nur sehr gute Porträts von den DJs sämtlich nicht am Plattenteller aufgenommen, sondern vor dem Gig beim Herumlungern im Clubmobiliar.

So schön die Bilder sind, an den englischsprachigen Statements hätte man noch etwas arbeiten können. Einige der DJs hatten entweder keine Lust, sich zu äußern oder einfach nichts zu sagen. Bei reflektierteren Köpfen wie Jeff Mills, Richie Hawtins oder Derrick May bedauert man es dagegen, dass ihnen nur eine Seite Text eingeräumt wurde. Hier ist das vor zwei Jahren erschienene „DJ-Handbuch“ von Ralf Niemczyk und Torsten Schmidt eine bessere Quelle, die ausführlichere Gespräche mit bekannten Diskjockeys enthält. Wer es ganz genau wissen will, sei auf den Klassiker „Last Night a DJ saved my life“ von Bill Brewster und Frank Broughton verwiesen, das es allerdings nur auf Englisch gibt. Für all diejenigen, die es nicht ganz so genau wissen wollen, ist „Raw Music Material“ mit seinen beiden CDs eine gute Einführung in den State of the Art elektronischer Tanzmusik.

Jenseits der zum Teil schon wohlbekannten „Wie ich mein erstes Mischpult bekam“- oder „Ich habe schon jeden Flughafen in Europa gesehen“-Geschichten sind besonders die Statements einiger älterer Semester interessant. Dabei klingt Derrick May, einst einer der artikuliertesten Techno-Propagandisten, heute recht resigniert: „In diesem Land [den USA, d. A.] gibt es schwarze Kids, die einfach nicht mehr tanzen gehen wollen. Die wollen von Tanzmusik einfach nichts wissen. Das interessiert sie überhaupt nicht. Die Hälfte weiß gar nicht, dass es sowas überhaupt gibt. Und so beschissen ist es in der ganzen Welt, sogar in Afrika. Ich war in Südafrika, und die Schwarzen da wollten auch nichts von mir wissen. Niemand hat ein schwarzes Publikum außer den Rap- und R-’n’-B-Leuten. Ich sehne mich nach einem schwarzen Publikum für meine Musik. Es schmerzt mich, dass schwarze Leute nicht darauf stehen. Denn ich bin schwarz.“

Walter Huegli und Martin Jaeggi: „Raw Music Material – Electronic Music DJs today“. Scalo Verlag Zürich 2003, Fotos von Arsène Saheurs, 120 Seiten und zwei CDs, 36 €, Website zum Buch: www.rawmusicmaterial.com