: Invasion vom Mars
Der Sicherheitsexperte Edward Luttwak erklärt brillant aus amerikanischer Sicht die Logik von Krieg und Frieden
Für den neokonservativen Robert Kagan ist der Konflikt zwischen Europa und den USA astronomischer Natur. Europa lebe auf der Venus, einem posthistorischen Paradies des Friedens und des Wohlstands, die USA dagegen auf dem Mars, wo Sicherheit eine Frage der Macht und damit militärischer Gewalt sei. Kagan ist von der historischen Mission überzeugt, die Welt nach dem Bild der USA neu zu ordnen, und zugleich begeistert davon, dass sie dazu auch die militärischen Möglichkeiten haben. Zwischen Feinden und Verbündeten wird im Grunde kein Unterschied gemacht. Beide haben sich unterzuordnen. Den Feinden drohen sie ansonsten mit Krieg, den Verbündeten mit Irrelevanz.
Robert Kagan wird nach dem Ende neokonservativer Phantasmagorien als brillanter Propagandist in Erinnerung bleiben. Dass es auch anders geht, beweist der amerikanische Politikwissenschaftler Edward Luttwak in seinem Buch „Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden“. Luttwak ist einer der profiliertesten Sicherheitsexperten der USA und zudem ein Intellektueller, der über die Grenzen seines eigenen Fachgebietes hinauszublicken versteht.
Gute Theorien zeichnen sich durch die Klarheit der Begriffe und eine stringente Argumentation aus. An diesen Maßstäben gemessen, ist Luttwaks Buch herausragend. Die Logik von Krieg und Frieden erklärt er mit Hilfe zweier Begriffe: Paradoxie und Dynamik. Denn im Gegensatz zu allen anderen Formen des Handelns verstoße ein Bereich menschlicher Beziehungen regelmäßig gegen die lineare Logik: der Bereich, der durch tatsächliche oder mögliche bewaffnete Konflikte bestimmt wird. Hier sei eine Logik am Werk, bei der die Gegensätze zusammenfallen.
Luttwak dekliniert diese paradoxe Logik durch alle Ebenen des Krieges. Er beginnt mit der Technik, dem Nutzen und den Grenzen verfügbarer Waffen, es folgt die taktische Ebene des Gefechts und die operative der Schlacht bis hin zum gesamten Kriegsschauplatz. Diese Ebenen beeinflussen sich wechselseitig. Man kann ein Gefecht gewinnen und verliert am Ende die gesamte Schlacht. Diese Struktur nennt Luttwak die vertikale Dimension des Krieges. Mit der vertikalen untrennbar verbunden ist die horizontale Dimension, die Luttwak mit dem Begriff der Dynamik charakterisiert. Auf jeder einzelnen Ebene gäbe es die dynamische Logik von Aktion und Reaktion. Die eigenen Handlungen sind eine Reaktion auf tatsächliche oder angenommene des Gegners. In dieser Dimension spielen etwa List, Täuschung, Tarnung oder Überraschung eine Rolle.
Die militärischen Aktivitäten insgesamt beeinflussen die Geschehnisse auf der Ebene der Gesamtstrategie (grand strategy), wobei hier die Frage nach Sieg oder Niederlage im Krieg entschieden wird. Das Militärische sei im Kontext der nationalen Politik, der internationalen Diplomatie, der wirtschaftlichen Aktivität und aller anderen Faktoren zu betrachten, durch die eine Macht geschwächt oder gestärkt werde.
Wo bei Robert Kagan Planeten einsam ihre Bahnen ziehen, finden wir bei Luttwak Menschen mit ihren Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten, wo das scheinbar Naheliegende direkt in die Katastrophe führt und sich das Ineffiziente am Ende als der Schlüssel zum Sieg erweist. Welche analytischen Möglichkeiten dieser Ansatz bietet, lässt sich am aktuellen Irakkrieg gut erkennen. Luttwak gehörte keineswegs zu den Kritikern des in den vergangenen Wochen so heftig umstrittenen Angriffsplans von Donald Rumsfeld. Im Gegenteil: Er ist in den USA einer der prononciertesten Vertreter des strategischen Luftkrieges mit Präzisionsbombardements.
In der vertikalen Dimension stimmt er also mit Donald Rumsfeld durchaus überein. Zwar wird man erst in Zukunft die Frage klären können, ob das strategische Bombardement die befürchteten Häuserkämpfe in Bagdad verhindert hat oder nicht Faktoren wie die politische Schwäche des Regimes für den militärischen Erfolg der USA verantwortlich sind. Sieg oder Niederlage werden aber auch in diesem Fall erst auf der Ebene der Gesamtstrategie entschieden werden. Dort sind seine Zweifel an den neokonservativen Thesen unüberhörbar. In Luttwaks Terminologie: Der Sieg in der vertikalen Dimension wird konterkariert von der „Disharmonie“ mit der horizontalen, wo Kräfte wie die Diplomatie, die rechtliche und politische Legitmation oder die ökonomischen Rahmenbedingungen wirken.
Der Irakkrieg ist der Beginn eines neuen Zeitalters und wird vielfältige Konsequenzen haben. Eine betrifft das transatlantische Verhältnis. Die einseitige Aktion der USA hat Institutionen des Westens wie die Nato beschädigt und einen Prozess in Gang gesetzt, der langfristig die Emanzipation Europas von der Vorherrschaft der USA bedeuten wird. Es ist eine Dynamik in Gang gekommen, die kaum mehr zu stoppen sein wird, selbst wenn die neokonservativen Marsianer in absehbarer Zeit nicht mehr die Richtlinien der amerikanischen Politik bestimmen sollten. Diese Dynamik zerstört die Grundlage des westlichen Bündnisses – weil US-Ideologen glauben so den Nahen und Mittleren Osten mit dem Mittel des Krieges neu ordnen zu können.
Welche Folgen ein Scheitern dieser Neuordnung haben wird, ist dabei nur ein weiteres Argument, das die historische Dimension des amerikanischen Handelns verdeutlicht. In der neokonservativen grand strategy ist damit der Keim des Scheiterns schon gelegt. Es gibt genügend historische Beispiele für jenes Phänomen, dass militärische Siege am Ende die politische Niederlage nicht verhindern konnten. Für die Vereinigten Staaten bedeutete dieses nach dem Scheitern des imperialen Neuordnungswahns den Rückzug in den immer virulenten Isolationismus, woran in Europa genauso wenig Interesse besteht wie an der Invasion vom Mars.
FRANK LÜBBERDING
Edward Luttwak: „Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden“, 400 Seiten, zu Klampen, Lüneburg 2003, 34 €