: Globalisierung der Toten
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen
Irgendwann, am abendlichen Küchentisch, war das Gespräch auf die Gesundheits-„Reform“gekommen. „Warum eigentlich soll die Gesellschaft den Leuten die Beerdigung bezahlen?“, fragte einer, der im Übrigen und andauernd die Sache der kleinen Leute verficht, „das ist doch Sache der Familie.“ Er rechtfertigte damit die Streichung des Sterbegeldes, die den größten Brocken beim Gesundsparen der Krankenkassen ausmacht. Vor zwanzig Jahren trug die Sozialversicherung in der Regel noch die vollen Kosten des Begräbnisses, im Schnitt wurden 4.200 Mark ausgezahlt, 1989 wurde der Betrag halbiert, 2003 noch einmal, und nun fällt das Sterbegeld ganz weg.
„Normalisierung der Überversorgung“, wie es so schön heißt. Es ist eine, die tiefer schneidet als die zehn Euro beim Arzt. Eine metaphysische Normalisierung. Mit ihr werden nun die Toten privatisiert. Das ist eine strukturelle Innovation. Denn die Toten – von den Hünengräbern in der Lüneburger Heide über den Dorffriedhof bis zum großstädtischen Krematorium – waren bislang immer die Sache der Gemeinde. Und da die Geschichte der Gesellschaften eine der Klassen ist, zeugen die Begräbnisriten vom Zustand der Gemeinschaft: vom Familien- und Häuptlingsgrab unter dem Findling über die Königsgruften, die Krypten und die Mausoleen bis zum Reihengrab der fordistisch Kremierten in den Massenstädten – die Orte des Todes erzählen vom Verhältnis der Klassen.
Auf dem Friedhof sind sie alle gleich? Das galt noch nie, auch dort waren die einen größer und die anderen kleiner, Marmor verwittert langsamer als Holzkreuze. Aber mit dem demokratischen Zeitalter entdeckten auch die Unteren das Bedürfnis, nicht vergessen zu werden. Deshalb lag das Sterbegeld schon im ersten Paket der Bismarck’schen Sozialreformen. Auch die Armen, auch die Familienlosen sollten würdig unter die Erde kommen, die Angst vorm Verscharrtwerden auch denen genommen werden, für die kein Gott und kein Verwandter mehr zuständig ist.
Etwa gleichzeitig mit der gleitenden – müssen wir noch sagen: globalisierungsbedingten? – Privatisierung des Nachlebens können wir eine neue Entwicklung auf den deutschen Friedhöfen beobachten: die anonyme Bestattung oder, wie die einschlägige Literatur sagt: „die vom Verstorbenen oder dessen Angehörigen verfügte Beisetzung in einer gemeinschaftlichen Anlage ohne individuelles Grabzeichen“. In norddeutschen Städten wie Bremen und Braunschweig erfolgt die Beisetzung „ohne Beisein von Angehörigen als rein verwaltungstechnischer Akt. Dabei kann es zu Sammelbeisetzungen von bis zu 250 Urnen kommen.“ In Hamburg wird ein Viertel, in Flensburg die Hälfte der Toten auf diese Weise verscharrt – Tendenz steigend. Alterseinsamkeit, das Gefühl von der Namen- und Nutzlosigkeit der eigenen Existenz und der Verlust jeglicher Religion spielen da zusammen. Und außerdem ist es billiger so.
Wirtschaftstheoretisch wäre somit alles in Ordnung: der Totenkult von der Angebots- wie von der Nachfrageseite erledigt. Die anonyme Asche im Massengrab unter dem blanken Rasenfeld, auf dem gelegentlich ein paar Tulpen oder Astern herumfliegen, verschämte sentimentale Reste; es spräche eigentlich nichts dagegen, die Friedhöfe aus der staatlichen Zwangsverwaltung zu entlassen, den Sarg- und Bestattungszwang (eine Mittelstandsförderung für das Undertaker-Business) gleitend zu lockern und dem Markt das Angebot zu überlassen: privatisierte Friedhöfe für diejenigen, denen das sozialisationsbedingt erworbene Bewusstsein eigener Bedeutung den Erwerb einer postmortalen Eigentumswohnung ermöglichen – die Friedhöfe der Zukunft als Fortsetzung der „guarded communities“.
Das Sterbegeld war die metaphysische Seite der Demokratie. Eine Zeit lang galt die Gleichheit vor der Nachwelt – es war einer dieser Versuche, die säkulare Aufklärung zu versöhnen mit dem ewigen Gedanken, dass es keine Gesellschaft geben kann, wenn die Nachwachsenden sich nicht als Glieder einer Kette begreifen. Deshalb gehen junge Menschen so gern, fast instinktiv, auf Friedhöfe, Orte, wo man die Wichtigen, die Klugen, die Mächtigen der Vergangenheit besuchen kann und all die anderen, auf deren Schultern wir leben. Nicht nur die eigenen Eltern. Ist auch das vorbei? „Ich kann das verstehen mit dem Verschwinden der Grabsteine“, sagt eine Freundin, „niemand, den ich kenne, lebt mehr dort, wo wir einmal Familie waren. Warum sollte ich da hinfahren? Aber es gibt doch jetzt Fotos und Videos.“
Man kann dagegen wenig sagen, denn wozu braucht eine Gesellschaft, die kein Projekt mehr hat außer Mobilität und Wachstum, noch diese Orte der Erinnerung? Keine Angst, es wird auch weiterhin geweint werden und erinnert – individuell. Einige werden sich die Asche ins Regal stellen, dort wo jetzt die Fotos stehen. Aber es wird kein Reich der Toten mehr geben. Und das ist denn doch, selbst rein säkular betrachtet, ein herber Verlust. Am freireligiösen Friedhof des Prenzlauer Berges steht: „Schafft hier das Leben / Gut und Schön / Kein Jenseits ist / Kein Auferstehn.“ Der bürgerlich-aufgeklärte Friedhof, der mit der Revolution von 1848 entstand, war eine Verpflichtung, eine Erinnerung an die Leiden und die Hoffnungen der Generationen, auf deren Schultern wir stehen.
Generation? Das Band wird immer dünner, das Wort selbst ist inzwischen zur Rechnungsgröße in den Rentenplänen der Finanzminister geworden, zum Terminus technicus in der Gentechnik, die den Individuen, wenn schon nicht ewiges, so doch längeres Leben verspricht. Die alten kollektiven Gefühle, die ja immer noch an uns haften, sind zu Marktlücken geworden. Vielleicht wird Microsoft dereinst auf den aufgelassenen Friedhöfen Mortiplexe bauen, in denen sich jeder für sich aus dem Video- und Gen-Material die Körper und die Stimmen seiner Urahnen rekonstruieren kann, in kleinen Kabinen: Peepshow ins Totenreich.
Unmenschlich? Ach was. Wir werden schon nicht zu Barbaren, nur zu Ort- und Geschichtslosen. Wir treten in eine neue Epoche ein, die irgendwann vor zwanzigtausend Jahren begann und nun endet. „Sie beerdigen ihre Toten zweimal“, erzählte mir einmal einer, der im fernen Aborigines-Land arbeitet, an der sanften Integration prähistorischer Gemeinden in den Tourismus-Weltmarkt. „Zunächst provisorisch, für ein Jahr. In dem Jahr wandern die Geister der Verstorbenen noch in einem Wäldchen herum, und jeder kann mit ihnen sprechen: um Verzeihung bitten, etwas sagen, das nicht gesagt wurde, eine Rechnung begleichen. Dann, nach einem Jahr, treten sie die letzte Reise an, zum Mond, von dem sie in alle Ewigkeit auf ihre Kinder blicken. Sie haben einen Mythos dort: Der Mann im Mond kam einst auf die Erde und verliebte sich in die Tochter des Häuptlings, wollte sie mit auf den Mond nehmen. Da weigerte sich der Stamm. Wenn ihr sie mir gebt, werdet ihr unsterblich, sagte der Mann vom Mond. Aber sie wollten nicht unsterblich werden, nicht um den Preis, dass einer aus ihrer Gemeinschaft fehlte.“
Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin