: Bremser, Eliten und Systeme
Am 29. Februar wählt Hamburg. Über die wichtigsten Themen lässt die taz Experten mit Politikern debattieren. Heute im Streitgespräch über Schule und Bildung: Arno Becker (Deutscher Lehrerverband) und GAL-Spitzenkandidatin Christa Goetsch
Moderation: Kaija Kutter
taz: Wieso machen neun gemeinsame Jahre Schule klug, Frau Goetsch?
Christa Goetsch: Wir haben in Deutschland viel zu wenig Abiturienten und zu viele Schulabbrecher. Spätestens nach Pisa ist deutlich, dass es das dreigliedrige Schulsystem nicht schafft, eine höhere Bildungsbeteiligung zu erreichen und die Schwachen mitzunehmen. Wir kommen nicht daran vorbei, dass das ewige Aussortieren in das nächstniedrigere System dazu führt, dass die Schwachen hängen bleiben und die Starken nicht richtig gefördert werden. Das hatte auch schon die Hamburger Lernausgangsuntersuchung Lau gezeigt. Wir müssen nach Pisa den Aufbruch schaffen und uns an den besten Beispielen orientieren. Das sind Finnland und Schweden.
taz: Herr Becker, warum soll die Struktur bleiben, wie sie ist?
Arno Becker: Wie wir gerade nach den Anmelderunden sehen, steht das Gymnasium bei Eltern hoch im Kurs. Hier zwangsweise eine andere Struktur einzuführen hieße, gegen deren Willen zu entscheiden. Sie zitieren Finnland. Dies lässt sich nicht auf Hamburg übertragen.
Wer dieses System kennt, der weiß, dass es dort ganz kleine Gruppen gibt und die Lehrer dort nur für den Unterricht zuständig sind. Sie kümmern sich weder um Förderung noch um Disziplin noch um psychische Betreuung, weil es dafür eine Vielzahl pädagogischer Hilfskräfte gibt. Die Standards liegen hoch. Da wird hingepowert. Wer nicht mitkommt, wird dann von anderen Kräften betreut. Das wird immer verschwiegen.
Goetsch: Sie spielen den Bremser, das können wir uns nach Pisa nicht erlauben. Wir haben eben nicht die guten Ergebnisse, wir verschleudern Ressourcen in sieben parallel laufende Schulsysteme. Wir haben die Gesamtschule, das dreigliedrige Systen, die Integrierten Haupt- und Realschulen (IHR) und die Sonderschulen und Förderschulen. Das ist das Drama.
Es ist falsch, jedes Kind nach Klasse 4 nach einem statischen Begabungsbegriff einzusortieren. Würden wir das Personal von Förderschulen und Jugendhilfe in die Schule geben, könnten wir wie Finnland arbeiten.
Becker: Es geht nicht ohne Mehrkosten. Wir haben kein Strukturproblem, sondern ein Förderproblem, und zwar auf allen Ebenen, von der Vorschule bis zum Abitur. Würde man die finnische Förderung in unser System geben, würden wir auch vernünftige Leistungen erzielen. Sie erwähnen Lau. Gerade dort kam heraus, dass das Gymnasium in Klasse 5 und 6 von allen Schulformen die Schwächsten am besten fördert. Es ist eine Frage der Ressourcen.
Goetsch: Hamburg hat eine Schüler-Lehrer-Relation von eins zu 16. Wo bleibt das eigentlich?
Becker: Es steckt in extravanganten Dingen, die Hamburg sich nicht leisten kann. Zum Beispiel der Krankenhausunterricht oder die Fremdnutzung von fast 200 Lehrerstellen. Das bringt astronomische Pro-Kopf-Zahlen. Ich bleibe dabei, uns fehlt Förderung. Wenn wir an den Hauptschulen etwa die Verzahnung der 9. Klassen mit einem Praxistag intensiver machten ...
Goetsch: Warum wollen Sie die Hauptschule als Restschule erhalten? Die Evaluation der IHR-Schulen hat doch gezeigt, dass wir dort Hauptschüler besser fördern. Die integrierten Schulen haben ein bis zwei Prozent Abbrecher und die getrennten bis zu 30 Prozent.
Becker: Sie machen sich das einfach. Das Nebeneinander der Systeme gestattet ja auch, dass der Schnellere schneller seinen Weg macht.
Goetsch: Warum wollen Sie Haupt- und Realschulen wieder trennen? Parallele Systeme kosten viel mehr Geld, als wenn wir sagen, wir lassen die Kinder länger gemeinsam lernen, wir fördern und fordern sie individuell. An Gymnasien werden die Spitzen laut Pisa ja auch nicht genug gefordert.
Becker: Nur weil wir keine Standards hatten. Und die Lage der Hauptschulen verantwortet die Vorgängerregierung, die zu Gunsten der Gesamtschulen dort weniger Unterstützung geliefert hat. Deswegen ist der Ansatz der jetzigen Regierung, die Haupt- und Realschulen zu stärken, richtig. Wir brauchen diesen starken Mittelbau. Wir könnten ja auch sagen, wir heben die teure Gesamtschule wieder auf und dann haben wir, was wir brauchen.
Goetsch: Um Gottes willen! Wenn wir die Gesamtschule noch weiter kürzen, würden wir noch weniger Integrationsleistung schaffen. Lau hat ja gezeigt, dass die Gesamtschulen Kinder, die keine Gymnasialempfehlung hatten, so fördert, dass sie das Abitur schaffen. Wir brauchen kluge, gut ausgebildete Leute.
Becker: Da haben Sie Recht, aber das heißt ja nicht, die Anforderung fürs Abitur zu senken.
Goetsch: Wollen wir nicht.
Becker: Man kann nicht gleichzeitig von Elite reden und sagen, wir lassen alle neun Jahre gemeinsam unterrichten. Schauen Sie nach Frankreich. Da wird das neunjährige Collège aus gutem Grund gerade abgeschafft.
Goetsch: Frankreich lag aber bei Pisa über dem Durchschnitt. Und es ist nicht mit Schweden zu vergleichen, weil es innerhalb dieser neun Jahre eine gesonderte Mittelstufe mit einem hohen Selektionsdruck gibt.
Becker: Sie müssen einmal wegkommen von diesem Ausdruck ‚Selektion‘. Es geht nicht um Aussondern, sondern um Orientieren. Man tut keinem einen Gefallen, wenn man darauf verzichtet. Dieses Lernen der Schwächeren von den Starken, das hat seine Berechtigung, wenn die Unterschiede nicht so groß sind. Gerade in einer Stadt wie Hamburg mit einem hohen Migrantenanteil und all seinen Problemen wird eine neunjährige Schule zu einer Homogenisierung auf unterem Mittelmaß führen. Wenn wir eine Elite wollen, müssen wir die Schnellen und die Guten bestmöglich fördern.
Goetsch: Was das dreigliedrige System nicht schafft. Das neue System gibt ja auch die Möglichkeit, jahrgangsübergreifend zu arbeiten, den Schnellen mehr Futter zu geben und die Schwachen eben auch individuell zu fördern, weil wir ja viel mehr Unterstützung haben durch das Personal.
Becker: Welches Personal?
Goetsch: Es wird jedes Jahr mit 380 Stellen das Sitzenbleiben bezahlt. Diese stecke ich wieder ins System. Was meinen Sie, was wir am Gymnasium für einen anderen pädagogischen Ethos entwickeln könnten.
Becker: Es ist ja nicht so, dass die Gymnasien drauf aus sind, Leute runterzustufen. Wenn wir mehr Förderung hätten ...
taz: Wie viele Stellen brauchen Sie?
Becker: Wir haben durch das Arbeitszeitmodell 1.000 Stellen gespart. Wir könnten gut noch mal so viele gebrauchen. Wenn wir die neunjährige Schule ohne zusätzliche Förderung starten, endet dies in einer Katastrophe.
Goetsch: Dann haben wir uns nicht verstanden.