: Grünes Rütteln an Grundprinzipien
Per Briefwahl entscheiden die Grünen über die Vereinbarkeit von Amt und Mandat. Die Berliner Partei- und Fraktionsspitze ist in dieser Frage selbst gespalten und erwartet ein weniger klares Ergebnis als der Bundesvorstand
Die Führungsriege der Berliner Grünen hält den Ausgang der gestern gestarteten Urabstimmung für offener als die Bundesspitze der Partei. Dort geht man von einem klaren Ja für ein Ende der völligen Trennung von Amt und Mandat aus. Anders Sibyll Klotz, grüne Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus: „Ich denke zwar, dass es eine Mehrheit geben wird, aber ich möchte nicht darauf wetten.“ Ähnlich äußerte sich ihr Co-Chef Volker Ratzmann, beide unterstützen die Satzungsänderung. Die Landesparteichefs Almuth Tharan und Till Heyer-Stuffer hingegen nicht. Tharan rechnet bei den Berliner Grünen mit mehr Nein- als Jastimmen.
In DIN-A5-Umschlägen sollen heute die bundesweit verschickten Abstimmungsunterlagen in der Post von knapp 3.400 Berliner Grünen landen. Sie können entscheiden, ob zukünftig im sechsköpfigen Bundesvorstand auch bis zu zwei Parlamentarier sitzen dürfen. Bislang ist das wegen der Trennung von Amt und Mandat, einem grünen Gründungsprinzip, nicht möglich. Fraktionschefs und Minister sollen weiterhin außen vor bleiben.
Eine derartige Satzungsänderung war 2002 auf Parteitagsebene knapp an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit gescheitert. Im Dezember mussten daraufhin die Bundeschefs Claudia Roth und Fritz Kuhn zurücktreten. Bei der Urabstimmung ist laut Bundesvorstand hingegen nur eine einfache Mehrheit nötig, die zudem nicht an eine bestimmte Wahlbeteiligung geknüpft ist. Beim einzigen Präzendenzfall – 1993 zur Fusion von Grünen und Bündnis 90 – beteiligte sich etwa die Hälfte der Mitglieder.
Landeschefin Tharan rechnet bei der Abstimmung bundesweit mit einer Mehrheit, nicht aber in Berlin. Im Landesverband halten sich nach ihrer Einschätzung zwar Zustimmung und Ablehnung die Waage. „Es wird aber dann darauf ankommen, wer den Stimmzettel auch zurückschickt, und da vermute ich, dass die Nein-Sager die Motivierteren sind“, sagte Tharan. Sie selbst lehnt die Satzungsänderung nach den vergangenen Bundesparteitagen ab: Dort sei versucht worden, so lange abzustimmen, bis das Ergebnis passte.
Auf Landesebene haben die Berliner Grünen die Trennung von Amt und Mandat im Februar ein Stück reformiert. Bei einem Parteitag ergänzten die Delegierten mit knapper Zweidrittelmehrheit den siebenköpfigen Kernvorstand um einen ebenso großen erweiterten Vorstand, dem bis zu vier Abgeordnete angehören dürfen. Das soll Partei und Fraktion besser verzahnen. In diesen Kreis wurden im April die Fraktionschefs Klotz und Ratzmann gewählt. Kritiker sehen darin eine Rutschbahn hin zum Ende der Trennung.
Bei erfolgreicher Urabstimmung rechnet Landeschefin Tharan nicht mit Konsequenzen für Berlin: „Im Landesverband gibt es kein Interesse, sich schon wieder in eine Strukturdebatte zu stürzen.“ Sie hält eine andere Reaktion für möglich: „Wenn die Mehrheit knapp ausfallen sollte, glaube ich, dass die Debatte über die Gültigkeit der Urabstimmung wieder aufflackert.“
Tharans Kreisverband Pankow hatte schon 2002 vergeblich gegen die Modalitäten protestiert und nicht nur die sonst bei Satzungsänderungen notwendige Zweidrittel-, sondern eine Dreiviertelmehrheit für erforderlich gehalten. Im Bundesvorstand hatte man diese Bedenken auch gestern nicht. „Unsere Satzung sagt dazu nichts, und dann gilt die einfache Mehrheit“, sagte Parteisprecherin Sigrid Wolff.
Bis zum 23. Mai sollen die Stimmzettel nach dem Einsendeschluss (13. Mai) im Rathaus Schöneberg ausgezählt werden. Beabsichtigte Geschichtsträchtigkeit am Jahrestags der Grundgesetzverkündung? Nein, meint Wolff: „Das war reiner Zufall.“
STEFAN ALBERTI