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Archiv-Artikel

Kein Kampf der Kulturen

Eine Lehre aus dem Irakkrieg ist: Die Spaltung des Westens muss nicht als Schwäche gedeutet werden. Denn sie hat eine Eskalation des Konflikts im Nahen Osten verhindert

Ein ideales Bedrohungsszenario muss militärisch entschlossen und politisch flexibel sein

Der Krieg am Golf ist vorbei. Nun haben die Aufräumarbeiten begonnen, nicht zuletzt in den Reihen der westlichen Demokratien. Denn hier hat der Irakkonflikt nach Meinung vieler den größten Kollateralschaden verursacht. Die Vereinten Nationen seien nachhaltig geschwächt, die transatlantischen Beziehungen schwer geschädigt und die Europäische Union tief gespalten.

Ist die Bilanz des Krieges wirklich so verheerend? Sicher, der Westen hat sich über die Irakfrage entzweit. Doch weder UNO noch Nato oder EU müssen deshalb bleibenden Schaden davontragen. Im Gegenteil, wir können auch positive Lehren aus dem Irakkonflikt ziehen. Nicht trotz der Spaltung der westlichen Demokratien, sondern gerade wegen ihrer Fähigkeit zum politischen Streit vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Das lässt sich gut an den Vereinten Nationen zeigen. Seit ihrer Gründung 1945 kennzeichnet die UNO eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dem Anspruch nach ist sie die einzig legitime Weltfriedensinstanz. In der Realität ist sie genau das noch nie gewesen. Im Normalfall gelangen Fragen von Krieg und Frieden nämlich erst gar nicht auf die Tagesordnung des Weltsicherheitsrates. So war es während des Kalten Krieges, und so ist es auch seit der Zeitenwende 1989 geblieben. Von den aktuell 70 kriegerischen Konflikten weltweit ist nur ein Bruchteil Thema in den Vereinten Nationen.

Insofern bedeutet der Irakkonflikt einen gewaltigen Fortschritt. Die UNO hat sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte als das Forum der Weltöffentlichkeit erwiesen, wo auf zivilisierte Weise über die Legitimität eines angekündigten Krieges gestritten worden ist. Wenngleich das Ergebnis dieses Streits ein Waffengang außerhalb des Völkerrechts war, hat die UNO eine Sternstunde ihrer Geschichte erlebt. Wann haben je zuvor Millionen von Menschen auf allen Kontinenten gleichzeitig vor dem Fernsehschirm gesessen, um sich eine Meinung über das diplomatische Ringen im Weltsicherheitsrat zu bilden?

Unverständlich ist zudem die Klage, die Vereinten Nationen hätten durch den Irakkonflikt ihre Handlungsfähigkeit eingebüßt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die UNO ohnehin nur in dem Maße handlungsfähig werden konnte, wie es die von der US-Regierung bereits getroffene Entscheidung für einen Regimewechsel im Irak zuließ. Was Washington durch die Vereinten Nationen anstrebte, war die Legitimation einer schon vorhandenen Kriegsabsicht. Indem die UNO diese Legitimation verweigerte, hat sie ihr kostbarstes Gut gegen die Instrumentalisierung durch die einzige Supermacht der Welt verteidigt. Dadurch haben die Vereinten Nationen nicht weniger Handlungsfähigkeit bewiesen, als dies mittels Erteilung eines Mandats zum Krieg gegen den Irak der Fall gewesen wäre.

Wir können auch umgekehrt fragen: Was wäre geschehen, wenn die westlichen Regierungen gleichermaßen die Bereitschaft gehabt hätten, militärisch gegen Saddam Husseins Regime vorzugehen? Wahrscheinlich wäre der Weltsicherheitsrat dann ganz außen vor geblieben, so wie zuletzt beim Kosovokonflikt. Dass die UNO also überhaupt zum Schauplatz der Auseinandersetzung über Krieg und Frieden am Golf werden konnte, ist vor allem jener Spaltung des Westens zu verdanken, die nun gemeinhin beklagt wird.

Der transatlantische Dissens über die Irakfrage hat indes nicht nur die UNO faktisch aufgewertet. Er hat darüber hinaus dazu beigetragen, die von allen Seiten befürchtete Eskalation des Golfkrieges zu vermeiden. Warum sind die meisten Katastrophenszenarios bislang ausgeblieben? Nicht nur wegen der technischen Überlegenheit der anglo-amerikanischen Streitkräfte oder der allgemein überschätzten Bereitschaft des irakischen Volkes, sich für das verhasste Regime Saddams als menschlicher Schutzschild zu opfern.

Ebenso plausibel ist der Hinweis auf propagandistische Motive: Alle Kriegsparteien haben nicht nur um den Irak, sondern wie selten zuvor auch um die Gunst der Weltöffentlichkeit gekämpft. Womöglich war es also die Hoffnung auf antiamerikanische Solidarität im „alten“ Europa, die Saddam den entscheidenden Anreiz zur Mäßigung seiner Kriegsführung geliefert hat.

In jedem Fall hat die arabische Welt nicht über die Spaltung des Westens hinweggesehen. Vielmehr ist genau registriert worden, dass sich etwa der Papst und mit ihm alle christliche Kirchen vehement gegen den Krieg eingesetzt haben. Dies hat bislang dazu geführt, den Westen nicht als einen geschlossen antiarabischen und antiislamischen Block erscheinen zu lassen. Und die Bedeutung dieses Effekts lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Ein kriegstreiberisch geeinter Westen wäre dem oft beschworenen Kampf der Kulturen wohl schon längst ein großes Stück näher gekommen.

Die Einsicht in die positiven Begleiterscheinungen des transatlantischen Streits über den Irak könnte schließlich auch einen Ansatz zur Verständigung zwischen Kriegsgegnern und Kriegsbefürwortern bilden.

Das stärkste Argument der Kriegsbefürworter ist stets gewesen, dass einem gefährlichen Diktator wie Saddam nur durch glaubwürdige Gewaltandrohung beizukommen ist. Es ist richtig: Ohne militärische Drohkulisse hätten die UN-Waffeninspektoren nicht die Chance erhalten, ihre erfolgreiche Arbeit im Irak wieder aufzunehmen und weiterzuführen.

Es ist aber auch richtig, dass Bedrohungsszenarien unter dem Zwang zur Glaubwürdigkeit dazu tendieren, sich selber zu erfüllen. Wie hätte es den USA und Großbritannien denn im theoretischen Fall gelingen sollen, nach dem Aufmarsch einer Armada von über 200.000 Soldaten ohne Gesichtsverlust wieder abzuziehen?

Die UNO hat sich zum ersten Mal als das Forum der Weltöffentlichkeit erwiesen

So merkwürdig es im ersten Moment klingen mag: Die notwendige diplomatische Rückendeckung hätte nur eine Antikriegskoalition innerhalb der westlichen Demokratien bieten können. Ein von Anfang an geschlossen auftretender Westen hätte sich der Eigendynamik einer glaubwürdigen Bedrohung dagegen kaum entziehen können, ungeachtet der Wirksamkeit jeder Rüstungskontrollmaßnahme.

Das ideale Bedrohungsszenario für einen Gewaltherrscher à la Saddam ist militärisch entschlossen und politisch flexibel. Weder eine Kriegskoalition noch die Antikriegskoalition hätte alleine die Fähigkeit zu beidem.

Wir sollten daher als Lehre aus dem Irakkonflikt ziehen: Aus der Spaltung des Westens muss nicht unbedingt Schwäche erwachsen. In der Fähigkeit zum offenen Austragen von Meinungsverschiedenheiten liegt vielmehr die besondere Stärke unserer Demokratien. Der westliche Dissens über den Irak hat letztlich zur Milderung des Konflikts beigetragen. Und je mehr sich Kriegsbefürworter und Kriegsgegner ihrer neuen transatlantischen Streitkultur bewusst werden, könnten sich beide Seiten auch wieder annähern.

CARSTEN SCHYMIK